Die Not

Vor 100 Jahren 

Die Waf­fen schwie­gen – doch die Not blieb Schö­nin­gen in den Jah­ren 1918 — 1923 

Am 11. Novem­ber 1918 wur­de der 1. Welt­krieg zumin­dest an der West­front durch einen Waf­fen­still­stand been­det. Die nach der Abdan­kung des Kai­sers und der Lan­des­fürs­ten jetzt Ver­ant­wort­li­chen über­nah­men ein schwe­res Erbe. Die nach­fol­gend beschrie­be­nen Schwie­rig­kei­ten und Pro­ble­me waren in unter­schied­li­cher Aus­prä­gung nicht nur auf Schö­nin­gen beschränkt son­dern erga­ben sich über­all im Deut­schen Reich.
In ihren ers­ten Ver­laut­ba­run­gen auf allen staat­li­chen und kom­mu­na­len Ebe­nen wur­den die Pro­ble­me nicht ver­schwie­gen. In dem Bericht im „Schö­nin­ger Anzei­ger“ vom 12. Novem­ber 1918 über die Grün­dung des ört­li­chen Arbei­ter- und Sol­da­ten­rates heißt es:
„Es gel­te einen Neu­auf­bau zu grün­den, der eine bes­se­re Zukunft ver­hei­ße. […] Wir haben eine neue Regie­rung, die aus einem Schutt­hau­fen Neu­es auf­bau­en soll. Die­se muss in ihrem schwe­ren Begin­nen unter­stützt wer­den, denn sie trägt schwe­re Ver­ant­wor­tung. Der schwie­rigs­te Teil sei die Volks­er­näh­rung und wenn die Regie­rung noch so frei­heit­lich sei, die für die Volks­er­näh­rung gege­be­ne Richt­schnur kön­ne und dür­fe sie im all­ge­mei­nen nicht über­schrei­ten, wenn nicht die Ernäh­rung bis zur nächs­ten Ern­te gefähr­det wer­den soll …“

Die im Ver­lauf des Krie­ges immer umfang­rei­che­ren Ein­schrän­kun­gen der Lebens­mit­tel­ver­sor­gung gal­ten für eine lan­ge Zeit wei­ter-hin.
Karl Rose zitiert im Band I sei­nes Hei­mat­bu­ches (Sei­te 234–235) aus einem Auf­ruf des Arbei­ter- und Sol­da­ten­ra­tes und des Stadt­ma­gis­trats vom 11. Novem­ber:
„Wer beim Rau­ben oder Plün­dern betrof­fen wird, wird stand­recht­lich erschos­sen wer­den.“
Die­se Straf­an­dro­hung wird durch das Gesetz über Volks­stand­ge­rich­te des Braun­schwei­ger Arbei­ter- und Sol­da­ten­ra­tes vom 16. Novem­ber kon­kre­ti­siert.
Dar­in bestimmt der § 1 unter ande­rem: „Mit dem Tode wird bestraft: wer plün­dert, raubt, … wer vor­sätz­lich Lebens- und Fut­ter­mit­tel ver­nich­tet, . wer den Eisen­bahn- und sons­ti­gen Trans­port­ver­kehr vor­sätz­lich schä­digt oder gefähr­det“.
Das Gesetz wur­de durch Beschluss der Lan­des­ver­samm­lung vom 21. Juni 1919 auf­ge­ho­ben. Ob es tat­säch­lich ange­wen­det wur­de, ist mir bis­her nicht bekannt. In ver­schie­de­nen wei­te­ren Geset­zen und Anord­nun­gen wur­de die Ver­sor­gung mit Nah­rungs­mit­teln und Ener­gie eben­falls behan­delt, so z. B. 

 im Gesetz über die Demo­bi­li­sa­ti­on der Gar­ni­son Braun-schweig vom 11.11.1918. Die Ent­las­se­nen erhiel­ten ledig­lich die ent­spre­chen­de Ver­pfle­gung für die Dau­er der Rei­se zu ihrem letz­ten Wohn­ort vor Ein­zie­hung zum Hee­res­dienst und hat­ten alle Bestän­de an Nah­rungs­mit­teln an die Zivil­ver­wal­tung zu übergeben. 

- dem Gesetz über die Erleich­te­rung des Ähren­sam­melns vom 5. August 1919. Danach war das Ähren­sam­meln auf abge­ern­te­ten Äckern straf­frei. Das Umpflü­gen der Äcker, die mit Getrei­de bestellt waren, durf­te frü­hes­tens am 4. Tage nach der Abern­tung erfolgen. 

- dem Gesetz über die Ein­rich­tung von Lan­des­ein­woh­ner­weh­ren vom 26. August 1919. Sie wur­den unter ande­rem gebil­det, zum „Schutz gegen die mit der schwe­ren Lebens­mit­tel­not zuneh­men­de Unsi­cher­heit in Stadt und Land und zur Sicher­heit von Leben und Eigen­tum der Ein­woh­ner­schaft gegen Plün­de­rung und Dieb­stahl“.

- den Vor­schrif­ten zum Zwe­cke der Erspar­nis von Brenn­stof­fen und Beleuch­tungs­mit­teln vom 31. Okto­ber 1919 auf der Grund­la­ge von Ver­ord­nun­gen des Bun­des­ra­tes aus den Jah­ren 1916 — 1918. 

Danach war das Behei­zen von Räu­men z. B. in Gast- und Spei­se­wirt­schaf­ten zeit­lich und räum­lich begrenzt. War­me Bäder durf­ten in Hotels und Pen­sio­nen nicht ver­ab­reicht, Kir­chen und Syn­ago­gen durf­ten nur zu bestimm­ten Fei­er­ta­gen beheizt wer­den.
Die­se Vor­schrift war bis zum 29. Febru­ar 1920 begrenzt. 

- und der Not­ver­ord­nung wegen Errich­tung eines Lan­des­po­li­zei­am­tes gegen Wucher und Preis­trei­be­rei vom 30. Sep­tem­ber 1922 auf Grund des Arti­kels 40 der Ver­fas­sung (Anmer­kung: des Frei­staa­tes Braun­schweig) Im ein­zi­gen Para­gra­fen der Ver­ord­nung heißt es:
„Sei­ne Auf­ga­be ist, ver­bo­te­ne Hand­lun­gen auf dem Gebie­te des Wuchers und der Preis­trei­be­rei nach Maß­ga­be der Geset­ze zu ver­fol­gen und die Täter der Bestra­fung zuzu­füh­ren.“
Die amt­li­chen Rege­lun­gen hin­sicht­lich der Regu­lie­rung der Men­gen und Prei­se von knap­pen Wirt­schafts­gü­tern blie­ben offen­sicht­lich ohne durch­grei­fen­de Wir­kung. Es kam in den fol­gen­den Jah­ren immer wie­der nicht nur in Schö­nin­gen zu Pro­tes­ten gegen Wucher und Schleich­han­del (heu­te: Schwarz­han­del).
Die ent­spre­chen­den Vor­schrif­ten stamm­ten über­wie­gend noch aus der Zeit des Welt­krie­ges.
Wie hei­kel die Situa­ti­on in Schö­nin­gen war, lässt ein mit „EILT“ gekenn­zeich­ne­tes Schrei­ben der Stadt­ver­wal­tung vom 22. Janu­ar 1919 an das Volks­kom­mis­sa­ri­at für Inne­res und Finan­zen erah­nen. Dort wird über die Demons­tra­ti­on am sel­ben Tag aus Pro­test gegen die Ermor­dung von Rosa Luxem­burg und Karl Lieb­knecht berich­tet.
Einer der nicht nament­lich bezeich­ne­ten Red­ner soll dar­auf hin­ge­wie­sen haben, „dass es letz­ten Endes dahin kom­men kön­ne, dass die Zuhö­rer hun­gern müss­ten. Wenn der Hun­ger sich ein­stell­te, dann soll­ten sie die Lebens­mit­tel neh­men, wo sie sie fän­den. Außer­dem ist uns von dem Lager­hal­ter unse­res Mehl­la­gers mit­ge­teilt, dass sein Knecht, der an dem Umzu­ge sich betei­ligt habe, ein Gespräch belauscht habe, nach­dem eine Berau­bung unse­res Mehl­la­gers beab­sich­tigt sei.“
Bür­ger­meis­ter Schulz weist abschlie­ßend dar­auf hin, dass die Auf­for­de­rung zum Gene­ral­streik (Anmer­kung: der nicht nur in Schö­nin­gen befolgt wur­de) und ins­be­son­de­re die Auf­for­de­rung, sich Lebens­mit­tel zu neh­men, wo wel­che zu haben sind, die gan­ze Lebens­mit­tel­ver­sor­gung der Stadt in Fra­ge stel­len und die Sicher­heit des Pri­vat­ei­gen­tums und des Lebens der Bür­ger auf das Schärfs­te gefähr­den wür­de.
Die mir zur Ver­fü­gung ste­hen­den Quel­len bele­gen kei­ne Plün­de­rung des Mehl­la­gers. Der Ernäh­rungs­mi­nis­ter Otto Antrick (MSPD) erließ am 18. Okto­ber 1920 zur Sicher­stel­lung der Ernäh­rung der Bevöl­ke­rung ein Aus­fuhr­ver­bot für Kar­tof­feln aus dem Land Braun­schweig.
Den Land­wir­ten wur­de gleich­zei­tig auf­er­legt, 100.000 Zent­ner Kar­tof­feln abzu­lie­fern. Das Aus­fuhr­ver­bot stieß auf mas­si­ven Pro­test der Reichs­re­gie­rung, da die­se Maß­nah­me Nach­ah­mer fin­den und damit die Belie­fe­rung der indus­tri­el­len Zen­tren aus land­wirt­schaft­li­chen Über­schuss­ge­bie­ten unmög­lich machen könn­te. Das hät­te wie­der­um Unru­hen und wohl auch Hun­ger bedeu­tet. Antrick muss­te das Aus­fuhr­ver­bot daher am 20. Novem­ber aufheben.

(Quel­le: Bernd Rother,
Die Sozi­al­de­mo­kra­tie im Land Braun­schweig 1918 bis 1933,
Bonn 1990, Sei­te 119) 

Sei­tens der Bür­ger­schaft wur­den im Rah­men der ört­li­chen Mög­lich­kei­ten etli­che Maß­nah­men zur Lin­de­rung der wirt­schaft­li­chen und sozia­len Not ergrif­fen. So wur­de im Novem­ber 1920 die „Schö­nin­ger Kin­der­hil­fe“ gegrün­det (Rose I, Sei­te 252 f). Bereits vor der Grün­dung die­ser Ver­ei­ni­gung wur­den durch das Gewerk­schafts­kar­tell wäh­rend des Som­mers regel­mä­ßig Kin­der­aus­flü­ge in den Elm ver­an­stal­tet. Im sel­ben Zeit­raum ver­schick­te das städ­ti­sche Wohl­fahrts­amt gesund­heits­ge­fähr­de­te Kin­der in Erho­lungs­hei­me. Die Kos­ten wur­den antei­lig durch die Stadt­ver­wal­tung, aus Mit­teln ver­schie­de­ner Stif­tun­gen und durch öffent­li­che Ver­an­stal­tun­gen der Kin­der­hil­fe gedeckt. Rose erwähnt meh­re­re Kin­der­spei­sun­gen in den Som­mer­fe­ri­en 1921 im Elm, an denen jeweils 120 Kin­der teil­ge­nom­men hät­ten.
Die­se Akti­on sei in den Win­ter­mo­na­ten mit Schul­spei­sun­gen fort­ge­setzt wor­den, bei denen „gesund­heits­ge­fähr­de­ten Kin­dern täg­lich ein Becher war­me Milch und ein Bröt­chen ver­ab­folgt wur­de“. Die Kin­der­ver­schi­ckun­gen sei­en in den fol­gen­den Jah­ren mit gutem Erfolg fort­ge­setzt wor­den. Ange­sichts der Not gro­ßer Bevöl­ke­rungs­krei­se blieb es nicht aus, dass sich gegen die­se Zustän­de Pro­test for­mier­te.
So kam es am 2. Sep­tem­ber 1921 im Anschluss an eine Ver­samm­lung von 2.000 Berg­leu­ten des Tage­bau­es 3 der Gru­be Treue zu einem Demons­tra­ti­ons­zug von ca. 4.000 Men­schen durch die Schö­nin­ger Innen­stadt. Es wur­den nach einem Bericht im „Schö­nin­ger Anzei­ger“ u.a. 8 rote Fah­nen und 4 Gal­gen mit der Auf­schrift „Für Schie­ber und Wuche­rer“ mit­ge­führt.
An die­sem Nach­mit­tag kam prak­tisch das wirt­schaft­li­che Leben in Schö­nin­gen und vie­len Orten der Umge­bung zum Erlie­gen, da sich auch Arbei­ter aus den Nach­bar­or­ten an der Demons­tra­ti­on betei­lig­ten. Der Pro­test rich­te­te sich nicht nur gegen „Preis­wu­cher“ son­dern auch gegen „Mord­übe­rei“, denn weni­ge Tage vor­her, am 26. August, war der Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­te Mat­thi­as Erz­ber­ger ermor­det wor­den. Der Zug ende­te auf dem Burg­platz, wo 5.000 – 6.000 Men­schen den Anspra­chen von Red­nern der USPD, der MSPD und der KPD folg­ten. Die Men­ge, im Zei­tungs­be­richt „Volks­ver­samm­lung“ genannt, for­mu­lier­te zum Abschluss der Ver­an­stal­tung eine Reso­lu­ti­on:
Text laut Rose Band I, Sei­te 257 (aus­zugs­wei­se zitiert):
„Um die­ses zu errei­chen, brin­gen die Ver­sam­mel­ten zum Aus­druck, dass sie die Ein­heits­front des Pro­le­ta­ri­ats gegen den Kapi­ta­lis­mus her­zu­stel­len bestrebt sind, damit sie mit größ­tem Nach­druck der Aus­beu­tung ent­ge­gen­tre­ten kön­nen. Die Ver­sam­mel­ten ver­lan­gen von der Braun­schwei­gi­schen Staats­re­gie­rung, dass sie alle Mit­tel in Anwen­dung bringt, dass
1. von der Reichs­re­gie­rung Maß­nah­men getrof­fen wer­den, die jede Bei­wu­che­rung auf dem Gebie­te der Nah­rungs­mit­tel­be­schaf­fung aus­schlie­ßen,
2. die Reichs­re­gie­rung alles unter­lässt, was in Form von Steu­ern den all­ge­mei­nen Ver­brauch noch wei­ter belas­tet. Soll­te die Reichs­re­gie­rung nicht in der Lage sein, die­ses Ver­lan­gen erfül­len zu kön­nen, so for­dern die Ver­sam­mel­ten den Rück­tritt der sozia­lis­ti­schen Mit­glie­der des Kabi­netts und die Auf­lö­sung des Reichs­ta­ges. Fer­ner gelo­ben die Ver­sam­mel­ten, den Kampf gegen die Orgesch, Stahl­helm und ver­wand­te Orga­ni­sa­tio­nen auf­zu­neh­men und jeden Ver­such die­ser Krei­se, öffent­lich auf­zu­tre­ten, den stärks­ten Wider­stand ent­ge­gen­zu­set­zen. „
Die Stadt­ver­wal­tung ver­such­te mit Hilfs­ak­tio­nen für Klein­rent­ner und ande­re hilfs­be­dürf­ti­ge Per­so­nen der wirt­schaft­li­chen Not ent­ge­gen­zu­wir­ken. Zur Min­de­rung der unge­hin­dert stei­gen­den Lebens­hal­tungs­kos­ten wur­den im Ver­lauf des Jah­res 1922 (an Klein­rent­ner und sons­ti­ge Hil­fe­be­dürf­ti­ge Kar­tof­feln ver­bil­ligt abge­ge­ben, es wur­den Koh­len an 130 Fami­li­en zum hal­ben Tages­preis und Obst an ca. 300 Fami­li­en kos­ten­los abge­ge­ben. Eine Samm­lung der Deut­schen Not­ge­mein­schaft an Geld und Natu­ra­li­en ermög­lich­te es 31 Per­so­nen zeit­wei­se so genann­te Frei­ti­sche zu nutzen.

Ab August wur­de an bedürf­ti­ge Fami­li­en Milch z.T. ver­bil­ligt, z.T. kos­ten­los abge­ge­ben (nach Rose Band I, Sei­te 258). Im August und Novem­ber demons­trier­te auch in Braun­schweig die Bevöl­ke­rung gegen die unhalt­ba­ren Zustän­de. Es kam dort zu Plün­de­run­gen. Die Pro­tes­te blie­ben fol­gen­los, die Prei­se stie­gen unver­min­dert wei­ter und erreich­ten 1923 Schwin­del erre­gen­de Höhen. Am 10. August kam es dann auch hier zu ers­ten Unru­hen.
Vie­le Schö­nin­ger, aber auch Aus­wär­ti­ge, fan­den sich in der Innen­stadt zusam­men. Meh­re­re Bäcke­rei­en, eine Flei­sche­rei und ein Schuh­ge­schäft erhiel­ten von der erreg­ten Men­ge unge­be­te­nen Besuch. Die Inha­ber wur­den gezwun­gen, ihre Waren zu her­ab­ge­setz­ten Prei­sen abzu­ge­ben. Die Stim­mung in der Bevöl­ke­rung war an einem Sie­de­punkt ange­langt, da die Löh­ne mit den unauf­halt­sam stei­gen­den Prei­sen für die Waren des täg­li­chen Bedarfs schon lan­ge nicht mehr Schritt hal­ten konn­ten. Am 23. Okto­ber ent­lud sich die Wut über die­se Zustän­de in Gewalt­ak­tio­nen. Es wur­den Lebens­mit­tel­ge­schäf­te geplün­dert und ver­schlos­se­ne Geschäf­te auf-gebrochen. 

Karl Rose beschreibt die Sze­nen in Band I sei­nes Hei­mat­bu­ches mit fol­gen­den Wor­ten:
„Durch die Stra­ßen der Stadt lie­fen Frau­en mit rie­si­gen unein­ge­wi­ckel­ten Mar­ga­ri­ne­blö­cken, die sie aus den Läden geholt hat­ten und kaum tra­gen konn­ten. Man sah But­ter in den Gos­sen lie­gen, man sah, wie Frau­en ihren Geschlechts­ge­nos­sin­nen, die beim Plün­dern erfolg­reich gewe­sen waren, in die Haa­re gerie­ten, wie sie sich gegen­sei­tig die But­ter ins Gesicht schmier­ten. […] Dann ging es an die Kon­fek­ti­ons- und Kurz­wa­ren­ge­schäf­te. Fens­ter­schei­ben wur­den zer­bro­chen, Zeug wur­de von vie­len danach grei­fen­den Hän­den zer­ris­sen, es herrsch­te ein tol­les Trei­ben“ (Sei­te 261).
Die Schö­nin­ger Poli­zei stand die­sen Aus­schrei­tun­gen macht­los gegen­über und for­der­te Hil­fe aus Braun­schweig an. Gemein­sam gelang es den Sicher­heits­kräf­ten dann, die Plün­de­run­gen zu unter­bin­den und die Lage vor­erst zu beru­hi­gen. Am nächs­ten Tag blie­ben die meis­ten Geschäf­te geschlos­sen. Die Poli­zei begann mit Haus­durch­su­chun­gen nach geplün­der­ten Waren. Dies war dann der Anlass für erneu­te Hand­greif­lich­kei­ten der wei­ter­hin erreg­ten Bevöl­ke­rung. Zitat Rose:
„Es kam wie­der zu Ansamm­lun­gen auf dem Markt­platz und zu Zusam­men­stö­ßen mit der Schu­po, wobei es ver­schie­de­ne Ver­letz­te auf bei­den Sei­ten gab. Schließ­lich wur­de die (Anmer­kung: Braun­schwei­ger) Schu­po unter Ober­leut­nant Möh­le ohne Blut­ver­gie­ßen ent­waff­net und gezwun­gen, auf ihrem Auto die Stadt zu ver­las­sen.“ (Sei­te 262)
Am Abend die­ses Tages rück­te daher zur Wie­der­her­stel­lung von Ruhe und Ord­nung die Reichs­wehr aus Braun­schweig mit drei Last­kraft­wa­gen in Schö­nin­gen ein. Es wur­de der Bela­ge­rungs­zu­stand aus­ge­ru­fen, Haus­durch­su­chun­gen durch­ge­führt, Waf­fen ein­ge­sam­melt sowie meh­re­re Per­so­nen fest­ge­nom­men. Auf dem Kirch­hof von St. Vin­cenz wur­den, durch ein Sta­chel­draht­ver­hau gesi­chert, ein Maschi­nen­ge­wehr und ein Minen­wer­fer auf­ge­baut. Von den Sol­da­ten wur­den etli­che der Fest­ge­nom­me­nen ver­prü­gelt. Bür­ger­meis­ter Schelz schritt ener­gisch gegen die­ses Trei­ben ein.
Rose schreibt:
„Erst nach mehr­wö­chi­gem Auf­ent­hal­te hier kehr­te die Reichs­wehr nach Braun­schweig zurück“ (Sei­te 262).
Die­se Gewalt­aus­brü­che führ­ten in der Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung zu einer leb­haf­ten Debat­te. Ins­be­son­de­re das Ver­hal­ten der Sol­da­ten gegen­über Fest­ge­nom­me­nen wur­de ein­mü­tig kri­ti­siert, aber auch die Lei­tung der Koh­le­gru­ben geriet in die Kri­tik, da sie eine Anpas­sung der Löh­ne an die stei­gen­den Prei­se ver­säumt hätte. 

Ange­sichts des Brot­prei­ses von 3 Mil­li­ar­den Mark bei einem Wochen­lohn von 2 Mil­li­ar­den Mark konn­ten die Berg­leu­te nur Kar­tof­feln statt Brot als Ver­pfle­gung in die Schicht mit­neh­men.
Es kam auch zur Spra­che, dass die Rädels­füh­rer der Kra­wal­le wohl aus Höten­s­le­ben gekom­men sei­en. Die Nach­bar­ge­mein­de erleb­te dann am 31. Okto­ber eine gro­ße Poli­zei­ak­ti­on. Nach einer Mel­dung im „Wochen­blatt“ (Tages­zei­tung aus Neu­hal­dens­le­ben) vom 4. Novem­ber durch­such­ten 500 Schutz- und Kri­mi­nal­be­am­te aus Preu­ßen und Braun­schweig die Gemein­de und beschlag­nahm­ten „eine Anzahl Pis­to­len und Revol­ver“ sowie ver­schie­de­ne Gegen­stän­de. Eine Per­son sei fest­ge­nom­men wor­den. Ver­fü­gung des Regie­rungs­prä­si­di­ums Mag­de­burg vom 29.10.1923, I/​18 Nr. 11168 (aus­zugs­wei­se zitiert)
„Ent­sen­dung von Kri­mi­nal- und Schutz­po­li­zei Zur Ermitt­lung der an den Schö­nin­ger Vor­gän­gen betei­lig­ten Per­so­nen, zur Her­bei­schaf­fung von Die­bes­gut, Waf­fen und sons­ti­ger Beweis­mit­tel wird Kri­mi­nal- und Schutz­po­li­zei ein­ge­setzt. Hier­zu stel­len: Schutz­po­li­zei Mag­de­burg: 2 Poli­zei — Bereit­schaf­ten, Poli­zei­schu­le Burg: 1 Poli­zei-Haupt­mann, 2 Poli­zei-Leut­nants und 120 Poli­zei-Wacht­meis­ter, Kri­mi­nal­po­li­zei Mag­de­burg: 8 Kri­mi­nal-Kom­mis­sa­re und 80 Kri­mi­nal-Beam­te, außer­dem wer­den von der Poli­zei Braun­schweig 80 Schutz­po­li­zei­be­am­te und 20 Kri­mi­nal-Beam­te gestellt. [ …] Die Schutz­po­li­zei aus Braun­schweig ist nur zur Absper­rung zu ver­wen­den. Das Unter­neh­men fin­det am 31. Okto­ber 1923 statt. Die Beam­ten sind so in Marsch zu set­zen, dass spä­tes­tens um 5,30 früh der Ort Höten­s­le­ben umstellt ist. [ .… ..] Jeder Beam­te der preu­ßi­schen Schutz­po­li­zei ist mit Kara­bi­ner und Pis­to­le aus­zu­rüs­ten. Maschi­nen-Pis­to­len mit­neh­men. [ .… ..] Die Mit­nah­me eines MG’s und von Hand­gra­na­ten wird anheim gestellt.“ – Lan­des­haupt­ar­chiv Sach­sen-Anhalt, Abtei­lung Mag­de­burg Sig. C 30 Neu­hal­dens­le­ben I 1098, Blatt 144- Das „Wochen­blatt“ mel­de­te am 9. Novem­ber, dass 40 Beschul­dig­te in Unter­su­chungs­haft genom­men und gegen 90 Per­so­nen Straf­ver­fah­ren ein­ge­lei­tet wor­den seien.

Nach einem wei­te­ren Bericht des „Wochen­blatt“ kam es im Novem­ber vor dem Land­ge­richt Braun­schweig zur ers­ten juris­ti­schen Auf­ar­bei­tung der Vor­fäl­le. Wegen Plün­de­rung, Wider­stands gegen die Staats­ge­walt, Zusam­men­rot­tung und uner­laub­ten Waf­fen­be­sit­zes wur­den Frei­heits­stra­fen zwi­schen 6 Mona­ten und 14 Tagen und einem Jahr ver­hängt. Nach die­sen Unru­hen bil­de­te sich eine „städ­ti­sche Not­ge­mein­schaft“, die einen Auf­ruf an die Land­be­völ­ke­rung rich­te­te, Lebens-mit­tel zu spen­den. Es konn­ten auf die­se Wei­se hilfs­be­dürf­ti­ge Fami­li­en mit ver­bil­lig­ten Lebens­mit­teln (Kar­tof­feln und Brot) ver­sorgt wer­den, u. a. wur­den 8.700 Bro­te aus­ge­ge­ben. Ange­sichts der schlech­ten Ernäh­rungs­ver­hält­nis­se wur­de auch die Volks­kü­che wie­der ins Leben geru­fen. (Rose, Band I, Sei­te 262) 

Ursa­chen und Aus­wir­kun­gen der Geldentwertung

Die Finan­zie­rung des 1. Welt­krie­ges mit Kos­ten von rund 164 Mil­li­ar­den Mark erfolg­te über­wie­gend durch die ver­mehr­te Aus­ga­be von Geld­schei­nen. So ver­fünf­fach­te sich die umlau­fen­de Geld­men­ge vom Kriegs­be­ginn bis 1918 auf 33 Mil­li­ar­den Mark. Finan­zie­rungs­quel­len waren: Die Fol­ge war eine rie­si­ge Staats­ver­schul­dung, die nach dem Ende des Krie­ges fort­ge­setzt wur­de, um die Umstel­lung der Kriegs­wirt­schaft auf die Frie­dens­pro­duk­ti­on sowie die Unter­stüt­zung der Kriegs­op­fer und der Hin­ter­blie­be­nen zu sichern.
Hin­zu kam die Repa­ra­ti­ons­for­de­rung der Alli­ier­ten, die erst­mals im April 1921 auf mehr als 132 Mil­li­ar­den Mark bezif­fert wur­den und in US-Dol­lar, Pfund Ster­ling und fran­zö­si­schen Franc zu leis­ten waren. Die sich dar­aus erge­ben­den innen­po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, bis hin zu den Mor­den an Mat­thi­as Erz­ber­ger (26. August 1921) und Wal­ter Rathen­au (24. Juni 1922) sowie der Ein­marsch von fran­zö­si­schen und bel­gi­schen Trup­pen in das Ruhr­ge­biet Anfang Janu­ar 1923 lie­ßen den Außen­wert der Mark ins Boden­lo­se fal­len. Die Reichs­re­gie­rung rief als Reak­ti­on auf den Ein­marsch zum pas­si­ven Wider­stand der Bevöl­ke­rung durch einen Gene­ral­streik im besetz­ten Gebiet auf. Damit die Strei­ken­den unter­stützt wer­den konn­ten, muss­ten die Noten­pres­sen immer mehr Geld­schei­ne dru­cken.
Im Novem­ber 1923 ließ die Reichs­bank als höchs­ten Wert einen Geld­schein über 100 Bil­li­on Mark dru­cken (100.000.000.000.000).
Die galop­pie­ren­de Infla­ti­on ver­nich­te­te Ver­mö­gens­wer­te und Spar­gelder von Gene­ra­tio­nen. Gleich­zei­tig ver­schlech­ter­te sich die Ver­sor­gungs­la­ge der Bevöl­ke­rung zuse­hends. Der Real­lohn sank auf ca. 40 Pro­zent des Vor­kriegs­wer­tes, die Löh­ne und Gehäl­ter konn­ten den stei­gen­den Prei­sen für Waren und Dienst­leis­tun­gen nicht mehr fol­gen. Ein gere­gel­tes Wirt­schafts­le­ben war ange­sichts die­ser Zustän­de nicht mehr mög­lich. Die Aus­zah­lung der Löh­ne erfolg­te häu­fig täg­lich, teil­wei­se wur­de auch auf den Tausch­han­del zurück­ge­grif­fen. So nah­men die bei­den Schö­nin­ger Zei­tun­gen als Zah­lungs­mit­tel für das Abon­ne­ment Natu­ra­li­en an. Der Natio­nal­öko­nom und Poli­ti­ker Karl Helf­fe­rich (1872−1924) der von 1914–1918 die Mit­tel zur Finan­zie­rung des Krie­ges kon­zi­piert und damit die Ver­meh­rung des Gel­des aus­ge­löst hat­te, ent­warf jetzt den ret­ten­den Plan. Es wur­de die Ren­ten­mark ein­ge­führt. Dafür wur­de Mit­te Okto­ber die Deut­sche Ren­ten­bank gegrün­det und zur Deckung des Grund­ka­pi­tals die­ser Bank der gesam­te Grund­be­sitz im Deut­schen Reich mit einer Hypo­thek von 3,2 Mil­li­ar­den Ren­ten­mark belas­tet.
Am 15. Novem­ber wur­de dann die Ren­ten­mark als neu­es Zah­lungs­mit­tel her­aus­ge­ge­ben. Der Wech­sel­kurs einer Ren­ten­mark war mit einer Bil­li­on Papier­mark fest­ge­legt wor­den, ein US-Dol­lar ent­sprach 4,20 Ren­ten­mark. In den fol­gen­den Mona­ten gelang es Poli­tik und Reichs­bank, den Kurs der neu­en Wäh­rung durch Ein­schrän­kung der Geld­men­ge und dras­ti­sche Spar­maß­nah­men im Haus­halt zu sta­bi­li­sie­ren. Die Ren­ten­mark wur­de schließ­lich am 30. August 1924 durch die Reichs­mark abge­löst, die durch Gold und wert­be­stän­di­ge Devi­sen gedeckt war. * Abkür­zung für „Orga­ni­sa­ti­on Esche­rich“. R. Esche­rich war Lei­ter der Lan­des­ein­woh­ner­wehr in Bay­ern.
Eine der ers­ten Amts­hand­lun­gen des Braun­schwei­ger Arbei­ter- und Sol­da­ten­ra­tes war die Bil­dung einer „Roten Gar­de“ zum Schutz der Revo­lu­ti­on, sprich zur Durch­set­zung der Räte­herr­schaft – Gesetz vom 13. Novem­ber 1918. Über die Auf­nah­me der Frei­wil­li­gen (Volks­wehr) ent­schied der ört­li­che Arbei­ter- und Sol­da­ten­rat. Die­se Ein­hei­ten wur­den im Rah­men des von der Reichs­re­gie­rung ver­häng­ten Bela­ge­rungs­zu­stan­des über den Frei­staat Braun­schweig im April 1919 auf­ge­löst.
In Schö­nin­gen erging dann Ende des Monats von der Stadt­ver­wal­tung, den poli­ti­schen Par­tei­en und dem ört­li­chen Gewerk­schafts­kar­tell an alle männ­li­chen Ein­woh­ner über 20 Jah­re der Auf­ruf, sich zum Dienst in einer Ein­woh­ner­wehr zu mel­den. In dem Auf­ruf wur­de betont, der Dienst erfol­ge ohne jeden poli­ti­schen Cha­rak­ter oder par­tei­po­li­ti­sche Inter­es­sen. Es gel­te Leben und Eigen­tum der Ein­woh­ner gegen Plün­de­rung, Gewalt­tä­tig­keit, Feld­dieb­stäh­le usw. zu schüt­zen.
Die Ein­woh­ner­weh­ren wur­den dann durch Gesetz der Lan­des­ver­samm­lung vom 29. August 1919 auf eine recht­li­che Grund­la­ge gestellt. Die der USPD ange­hö­ren­den bzw. mit ihr sym­pa­thi­sie­ren­den Män­ner wur­den aller­dings im November/​Dezember von der Schö­nin­ger Par­tei­glie­de­rung auf­ge­for­dert, dort aus­zu­tre­ten, da die Ein­heit die Kon­ter­re­vo­lu­ti­on unter­stüt­ze, soll hei­ßen, sich nicht für die Errich­tung einer Räte­re­pu­blik ein­set­ze.
Die Mann­schafts­stär­ke der Schö­nin­ger Wehr ver­rin­ger­te sich dadurch von ursprüng­lich rund 400 auf nur noch 172 Mit­glie­der, die ver­mut­lich über­wie­gend dem bür­ger­li­chen Lager ange­hör­ten. Die Ein­woh­ner­weh­ren wur­den auf Druck vor allem der fran­zö­si­schen Regie­rung über­all im Deut­schen Reich auf­ge­löst. Im Land Braun­schweig erfolg­te dies durch das Gesetz vom 15. Sep­tem­ber 1920 mit sofor­ti­ger Wirkung.

Quel­le: über­wie­gend:
Inter­net­auf­tritt des Deut­schen His­to­ri­schen Muse-ums, Sei­ten „Die Infla­ti­on von 1914 – 1923“, „Die Wäh­rungs­re­form 1923“
und „Karl Helf­fe­rich – 1872 – 1924“ 

Joa­chim Bittner