Von Rosemarie Saak
Um an die ermordeten Juden zu erinnern, haben wir uns 2011 zur Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine zusammengefunden. Hier am Gedenkstein kam die Frage auf, wo die Juden in Schöningen gewohnt haben. Unterlagen und Karteikarten darüber gab es nicht mehr im Archiv der Stadt, denn man hat sie vor Ende des Krieges alle vernichtet.
Als kleine Gruppe recherchierten wir, fragten Zeitzeugen, forschten in Gedenkbüchern und setzten uns dafür ein, dass zur Erinnerung an diese ehemaligen Bürger unserer Stadt vor ihren zuletzt freiwillig gewählten Wohnungen Stolpersteine in den Fußweg eingesetzt wurden. Die Steine informieren über das Geburtsdatum und das Schicksal während der NS-Zeit.
Heute liegen in Schöningen 32 Stolpersteine für die Juden, die in unserer Stadt gelebt haben. Gedanklich zieht sich von den Namen der Menschen hier auf dem Gedenkstein ein Netzwerk zu den in der Stadt verlegten Stolpersteinen. Unser ehemaliger Bürgermeister Henry Bäsecke hat anlässlich einer Stolpersteinverlegung gesagt: „Die Stolpersteine sind flächenmäßig das größte Denkmal in Schöningen.“
Auf den meisten der 32 Stolpersteine steht das Wort ermordet oder tot. Auf einigen liest man überlebt, Flucht, Schicksal unbekannt, oder es steht dort ein Fragezeichen. Das warf in uns viele Fragen auf und wir hätten gern Näheres über das Schicksal dieser Menschen erfahren. Gewiss lebte keiner mehr von ihnen, als die Stolpersteine verlegt wurden. Aber vielleicht gibt es ja Nachkommen, Angehörige? Unsere Recherchen darüber brachten uns aber leider nicht weiter.
Manchmal dauert es sehr lange, bis Vergessenes ans Licht gelangt. Die E‑Mail eines uns unbekannten jüdischen Ehepaares aus Kalifornien war so ein Lichtblick. Sie schrieben, dass sie im Internet auf die für ihre Familie Cohen in Schöningen verlegten Stolpersteine gestoßen waren und mehr darüber wissen wollten.
Die Familie Cohen gehörte hier zur Jüdischen Gemeinde, ist aber leider auf dem Gedenkstein nicht erwähnt. Das Grab von Wilhelm Cohen, der 1933 starb, ist hier in unmittelbarer Nähe. Vor dem ehemaligen Geschäftshaus der Cohens in der Bismarckstraße liegen drei Stolpersteine, für Johanna, Wilhelms Frau, die 1939 in Berlin verstorben ist, und für die beiden Söhne Heinrich und Walter. Heinrich ist 1938 nach England geflohen und hat überlebt. Auf Walters Stolperstein steht: Schicksal unbekannt. Der Mail-Austausch mit diesem Ehepaar gab uns nun Einblick in den Lebensweg von Walter Cohen. 1930 hatte er das Abitur in Schöningen abgelegt und darauf ein Medizinstudium begonnen. Bald danach heiratete er Rosi Hirschberg. Als es sich zeigte, dass schwierige Zeiten für die Juden in Deutschland kommen würden, flüchtete das Ehepaar. Er nach Belgien, sie nach England. Später haben sie sich in Finnland wiedergetroffen. Dort arbeitete Walter als Arzt. 1941 wurde der Sohn William geboren.
Aber auch in Finnland war die junge Familie nicht sicher vor den Nazis. Bald wurde Walter in ein Arbeitslager nahe des Polarkreises geschickt. Zu dieser Zeit observierte die finnische Polizei in Komplizenschaft mit der Gestapo deutsch-jüdische Flüchtlinge, darunter auch die Cohens, und wollte sie mit einem Schiff wieder zurück nach Deutschland bringen. Eine Notiz auf einer Postkarte, die Walter an einen einflussreichen finnischen Regierungsbeamten sandte, verhinderte die Ausreise des Schiffes und rettete damit 150 Menschen das Leben. Die Familie wanderte später nach Schweden aus, wo Tochter Jane geboren wurde.
Nach dem Krieg zog die Familie 1946 nach Äthiopien, wo Walter in einer Reihe von Missionskrankenhäusern arbeitete. Dort wurde Tochter Helen geboren. Aufgrund der Höhenlage von Addis Abeba, die Walters Gesundheit stark beeinträchtigte, zog die Familie 1954 wieder nach Schweden zurück, wo Walter Cohen drei Jahre später im Alter von 57 Jahren starb. Seine Witwe Rosi wanderte darauf mit ihren drei Kindern in die USA aus, wo ihr Vater lebte.