Kohleabbau im Grenzgebiet zwischen Büddenstedt und Hötensleben
Passend zu unserer Ausstellung 222 Jahre Braunkohlegewinnung in der Region Ostfalen können wir mit Genehmigung des Spiegel einen Artikel abdrucken, der im Mai 1956 im Heft 22 erschienen ist und die damalige Situation des Kohleabbaus im Grenzbereich schildert. Der Text ist im Original belassen, lediglich die kursiv gedruckten Teilüberschriften innerhalb des Textes wurden zur schnelleren Orientierung eingefügt.
Schüsse bei Helmstedt
April 1956 Der Morgen graute. An jener Stelle, an der die Zonengrenze den Braunkohlentagebau Wulfersdorf der Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke (BKB) zu Helmstedt in einen östlichen und einen westlichen Teil zerschneidet, sah ein Beamter des bundesrepublikanischen Zollgrenzdienstes, wie eine Anzahl Männer von Osten her ganz offen auf die Zonengrenze losmarschierte und Anstalten machte, diese Linie zu überschreiten. Der Zollbeamte riss aufgeregt seinen Karabiner von der Schulter, entsicherte und legte an. Sekunden später peitschten scharfe Schüsse über die Köpfe der Männer aus dem Osten. Das Echo der Schüsse – niemand wurde getroffen – war zwischen den Kohlenhalden kaum verhallt, als der Zollbeamte Befehl erhielt, in solchen Fällen künftig nichts mehr zu unternehmen. Aus dem Befehl ging hervor, dass die Zonengrenze an dieser Stelle keine Zonengrenze im alten Sinne mehr sei. Seit diesem Tage kommen an jener Stelle jeden Morgen Arbeiter aus der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik völlig unbehelligt in die Bundesrepublik. Zugleich passieren bundesrepublikanische Arbeiter kaum fünf Kilometer weiter südlich im Tagebau Viktoria den Stacheldraht in Richtung Osten, und kein Volkspolizist der sowjetzonalen „Deutschen Grenzpolizei” kümmert sich darum.
Damit, so scheint es, ist ein erster Schritt getan, um an dieser Stelle dem Eisernen Vorhang den Charakter eines unüberquerbaren Todesstreifens zwischen der östlichen und der westlichen Welt zunehmen und die Zonengrenze wieder zu dem zu machen, was sie ursprünglich war: zu einer von alliierten Befehlshabern gezogenen Demarkationslinie zwischen ihren Besatzungsbereichen in Deutschland.
1947– Kohle soll trotz Zonengrenze abgebaut werden können
Im Jahre 1947 waren die vier Besatzungsmächte übereingekommen, dass alle Maßnahmen zu unterbinden seien, die den Abbau der reichhaltigen Kohlenflöze des Helmstedter Gebietes sowie die Rentabilität der Gesamtanlagen der Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke beeinträchtigen könnten. Dazu war es nötig, der Zonen-grenze nicht mehr als administrative Bedeutung beizumessen. Die Linie lief nämlich – etwa entlang der Grenze zwischen dem ehemaligen Land Braunschweig und der Provinz Sachsen – mitten durch die Tagebaue hindurch.
1952 — Die Grenze wird undurchlässig
Die Grenze wurde jedoch auch in diesem Gebiet eine wider alle wirtschaftliche Vernunft unübersteigbare Barriere, als sich Anfang Mai 1952 abzeichnete, dass es der Bundesregierung in Bonn und drei Westmächten mit der Unterzeichnung des damals noch Generalvertrag genannten Deutschlandvertrages ernst war. Schon am 6. Mai 1952 verwehrten Volkspolizisten im Tagebau Wulfersdorf, der von der Demarkationslinie genau wie der Tagebau Viktoria durch-schnitten wird, achthundert westdeutschen Arbeitern den Übertritt in die Sowjetzone. Das war aber erst der Anfang. Am 25. Mai erhielt die Betriebsführung der Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke in ihrem Helmstedter Bürohaus eine Mitteilung der sowjetzonalen Volkspolizei, dass der Arbeitergrenzverkehr zwischen Ost und West eingestellt werde. Um 7.30 Uhr am nächsten Tage, drei Stunden, bevor im Bonner Bundesratssaal die Außenminister Eden, Schuman, Acheson und der Kanzler Adenauer den Generalvertrag unterzeichneten, besetzten Volkspolizisten die ostwärts der Zonengrenze gelegenen Betriebe der BKB – nämlich Teile des Tagebaus Viktoria, das Kraftwerk Harbke und die Brikettfabrik Fürst Bismarck in Völpke – und vertrieben die Westarbeiter. Punkt 1O Uhr desselben Tages wurde die Zonengrenze auch im Tagebau Wulfersdorf abgeriegelt, unbeschadet der Tatsache, dass östlich noch westliche Bagger standen, an denen bis heute schwarzrotgoldene Fähnchen der Deutschen Demokratischen Republik flattern. Zur gleichen Stunde wurde auch der Werkstelephon-verkehr zwischen beiden Deutschlands unterbrochen, und im Kraftwerk Harbke, wohin die Verbindung noch funktionierte, sagte ein Vopo-Offizier barsch: „Legen Sie auf, es hat keinen Zweck.” Die Sowjetzonen-Teilstücke der BKB wurden zu einem „Volkseigenen Betrieb” gemacht.
Wirtschaftliche Folgen
Den Braunschweigischen Kohlen-Bergwerken gelang es in verhältnismäßig kurzer Zeit, ihre auf westlicher Seite gelegenen Betriebe von östlicher Unterstützung unabhängig zu machen. Die Sowjetzone hat jedoch seitdem mit den Teilbetrieben in ihrer Hand keine rechte Freude gehabt. Bis zur Schließung der Zonengrenze an dieser Stelle hatte das Kraftwerk Harbke, das auf sowjetzonalem Gebiet liegt, monatlich 83 Millionen Kilowattstunden nach Ost und West geliefert und täglich 5.000 Tonnen Kohle und 17.000 Kubikmeter Wasser aus dem Westen bezogen. Diese Bezugsquelle war plötzlich versiegt. Noch heute muss Harbke etwa ein Drittel seines Kohlenbedarfs von weither heranschaffen, einen großen Teil aus dem Tagebau bei Nachterstedt in der Staßfurter Gegend.
Geheime Verhandlungen
Vier Jahre dauerte der wirtschaftliche Unsinn. Dann trafen sich unter strengster Geheimhaltung Vertreter der Braunschweiger Kohlen-Bergwerke und der „Volkseigenen Braunkohlengruben Harbke”. In einem Büroraum der rot angemalten Baracken, die am Ortseingang des – westlichen – Offleben stehen, wurde am 1.3.1956 heimlich ein Vertrag unterschrieben. Dieser Vertrag sieht die Nutzung von etwas mehr als 36 Hektar Grubengelände ostwärts der Zonengrenze im Tagebau Viktoria durch die Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke und die Nutzung von 12 Hektar Grubengelände westlich der Zonengrenze im Tagebau Wulfersdorf durch die „Volkseigenen Betriebe” vor. Der Vertrag ist am 20. April 1956 in Kraft getreten . Er gilt zunächst auf vier Jahre, wird aber stillschweigend um jeweils weitere zwei Jahre verlängert, wenn er nicht von der einen oder anderen Seite gekündigt wird. Westlicher Vertragspartner ist der Betriebsleiter des westlichen Teils des Tagebaus Viktoria — nicht etwa die Firma Braunschweigische Kohlen-Bergwerke in Helmstedt. Der östlichen Delegation gehörten neben Beauftragten der Harbker „Volkseigenen Betriebe” auch ein Volkspolizei-Offizier und ein Vertreter des DDR-Ministeriums für Schwerindustrie an. Sowjetmenschen haben sich an der ganzen Aktion nicht beteiligt. Über den schriftlichen Landtausch-Vertrag hinaus wurde mündlich vereinbart, die ganze Tauschaktion strikt geheimzuhalten. Kein Sterbenswörtchen sollte über die heimliche kleine Wiedervereinigung südlich von Helmstedt bekanntwerden.
Das gesamtdeutsche Ministerium des Ministers Jakob Kaiser, das einen Mann nach Helmstedt geschickt hatte und dann seinen Segen gab, hatte besonderen Wert auf die Geheimhaltung gelegt. Aber nicht nur Bonn musste gehört werden, sondern Bundesgrenzschutz, Polizei und Zolldienst dazu. Ehe die Kenntnis über die vertraglich veränderte Situation bis zum letzten Grenzhüter durchgedrungen war, wäre es fast noch zu einem Zwischenfall gekommen, als jener Zollbeamte auf die sowjetzonalen Arbeiter schoss, die über die Grenze kommen wollten. Sogar im zuständigen Präsidium des Verwaltungsbezirks Braunschweig – das dem Regierungspräsidium anderwärts entspricht – weiß man nichts oder lediglich Unvollkommenes. „Das ist das erste, was ich höre”, wundert sich Landesplaner Dr. Hoffmann, der die Karten vom Helmstedter Braunkohlengebiet auswendig kennt. „Davon weiß der Präsident bestimmt auch noch nichts.”
Quelle Text und Karte: Der Spiegel 22 – 30.5.1956
Fotos Archiv des Heimatvereins