Die Glocken

Die Glo­cken der St. Vin­cenz­kir­che zu Schö­nin­gen
Glo­cken­guss der größ­ten Glo­cke von St. Vin­cenz vor 300 Jahren

Von weit­her sicht­bar über­ragt das mäch­ti­ge stei­ner­ne West­werk der St. Vin­cenz­kir­che die Alt­stadt von Schö­nin­gen. Der Turm ist nicht nur sicht­ba­res, son­dern mit den in ihm befind­li­chen drei Glo­cken auch akus­ti­sches und iden­ti­täts­stif­ten­des Zei­chen einer leben­di­gen Gemein­de. Im Jahr 2016 jährt sich das Glo­cken­guss­ju­bi­lä­um der größ­ten Glo­cke von St. Vin­cenz zum drei­hun­derts­ten Male. Ein Grund sich mit dem his­to­risch bedeu­ten­den Geläut der St. Vin­cenz­kir­che näher auseinanderzusetzen.

Das Ange­bot zur Turm­be­stei­gung wur­de gern ange­nom­men. Die Zuhö­rer waren beein­druckt von der Füh­rung, die eine Dar­bie­tung der Glo­cken in Akti­on beinhaltete.

Die­ser Text ent­stand daher ursprüng­lich als Vor­trag für eine beson­de­re Markt­an­dacht der Gemein­de in der am 21. Sep­tem­ber 2016 das Glo­cken­ju­bi­lä­um fei­er­lich began­gen wur­de. Das drei­stim­mi­ge Geläut der St. Vin­cenz­kir­che stammt aus dem 18. Jahr­hun­dert, bil­det jedoch auf­grund sei­ner unge­wöhn­li­chen Dis­po­si­ti­on und der Tat­sa­che, das alle drei Glo­cken von unter­schied­li­chen Gie­ßern stam­men ein Geläut mit hohem Wie­der­erken­nungs­wert vor allem in musi­ka­li­scher Hin­sicht.
Im Jah­re 1716 erhielt der Braun­schwei­ger Glo­cken­gie­ßer Chris­ti­an Lud­wig Mey­er den Auf­trag zum Guss der größ­ten Glo­cke­des St. Vin­cenz­ge­läu­tes. Es war aller­dings kein Neu­guss im klas­si­schen Sinn, son­dern viel­mehr ein Umguss einer bereits vor­han­de­nen Glo­cke. Umguss bedeu­te­te zu dama­li­ger Zeit, dass die Vor­gän­ger­glo­cke irrepa­ra­bel beschä­digt war. In der Regel waren Glo­cken gesprun­gen und hat­ten damit ihren Klang ver­lo­ren. Davon muss man in die­sem Fall auch aus­ge­hen. In die­ser Zeit war es tech­nisch nicht mög­lich, gesprun­ge­ne Glo­cken zu repa­rie­ren, so dass der Gemein­de nichts ande­res übrig blieb, als die schad­haf­te Glo­cke ein­zu­schmel­zen, um aus ihr eine neue gie­ßen zu las­sen.
In der Geschich­te des Geläu­tes war es bereits der fünf­te Umguss die­ser Glo­cke, da die Inschrift auf der Glo­cke dies bis heu­te mit den latei­ni­schen Wor­ten „SANC CAMPANE QUINTUM RESTAURATA” über­lie­fert. Für den Umguss kam nur der Glo­cken­gie­ßer Chris­ti­an Lud­wig Mey­er in Fra­ge, woll­te sich die Gemein­de nicht straf­bar machen.
Die­ser Chris­ti­an Lud­wig Mey­er ent­sprang einer Stück- und Glo­cken­gie­ßer­dy­nas­tie aus Wol­fen­büt­tel und Braun­schweig. Dies war durch­aus üblich, denn Stück- und Glo­cken­gie­ßer waren je nach poli­ti­scher Lage mal das eine und mal das ande­re. In Frie­dens­zei­ten gos­sen sie Glo­cken, brach aller­dings ein Krieg aus, so muss­ten sie oft genug ihre eige­nen Glo­cken zu Geschüt­zen und Kano­nen als Stück­gie­ßer umgie­ßen. Das führ­te natür­lich dazu, dass die­ser Kreis­lauf sie nie arbeits­los machte.

Das Schö­nin­ger Stadt­wap­pen auf der Glocke

War­um muss­te die Gemein­de nun aber die­sen Chris­ti­an Lud­wig Mey­er für den Glo­cken­guss her­an­zie­hen, wenn sie sich nicht straf­bar machen woll­te? Dazu muss man die Glo­cken­gie­ßer­dy­nas­tie Meye­ret­was näher betrach­ten. Sowohl Chris­ti­an Lud­wig Mey­ers Groß­va­ter Hei­se Mey­er, als auch sein Vater Hei­so Mey­er waren bereits in Wol­fen­büt­tel und Braun­schweig als Glo­cken­gie­ßer tätig. Der Vater von Chris­ti­an Lud­wig Mey­er, Hei­so Mey­er war von Her­zog August dem Jün­ge­ren im Jahr 1658 zum fürst­li­chen Stück­gie­ßer und pri­vi­le­gier­ten Glo­cken­gie­ßer ernannt wor­den. Sein Pri­vi­leg bestand dar­in, „Glo­cken all­hier im Lan­de allein zu gie­ßen“.1 Er erhielt damit ein Mono­pol auf den Stück- und Glo­cken­guss, wor­an sich auch die Kir­chen zu hal­ten hat­ten.
Natür­lich konn­te Hei­so Mey­er die­ses Mono­pol nie zu sei­ner Zufrie­den­heit gänz­lich durch­set­zen. So kam es auch, dass vor allem die braun­schwei­gi­sche Rot- und Glo­cken­gie­ßer­gil­de sich gegen Hei­so Mey­er lehn­te. Die Gil­de wand­te sich mit einem so genann­ten „Treib­zet­tel“ an den Rat der Stadt, in dem es heißt: „Wir Meis­ter und Gesel­len las­sen Hei­so Mey­er in Wol­fen­büt­tel trei­ben, denn er ehr­li­chen Meis­tern das Brot vor dem Mun­de weg­stiehlt und nimmt ihnen die Arbeit weg, die sie red­li­cher Wei­se ver­dun­gen haben und for­dert unred­li­che Gesel­len neben red­li­chen, wel­ches sich nicht gebührt.“2 Anfang des 18. Jahr­hun­derts muss Hei­so Mey­er von Wol­fen­büt­tel nach Braun­schweig umge­zo­gen sein, denn sei­ne Glo­cken aus dem Jah­re 1702 geben die Stadt als Guss­ort an. Am 11. Febru­ar 1704 ver­starb er in Braun­schweig. Hei­so Mey­er hat­te sie­ben Töch­ter und sechs Söh­ne, wovon meh­re­re Söh­ne den Beruf des Vaters ergrif­fen. Der ältes­te Sohn, Chris­ti-23 an Lud­wig Mey­er gebo­ren 1659 oder 1660, ließ sich als Stück- und Glo­cken­gie­ßer in Braun­schweig nie­der, nach­dem die Stadt 1671 in den Besitz des Her­zogs gekom­men war.3

Seit 300 Jah­ren läu­tet die gro­ße Glo­cke von St. Vincenz.

Chris­ti­an Lud­wig Mey­er goss zu sei­nen Leb­zei­ten eine beacht­li­che Anzahl an Glo­cken – allein in einem Zeit­raum von 19 Jah­ren sind 51 Glo­cken­güs­se nach­weis­bar, was sicher­lich auch an dem fürst­li­chen Pri­vi­leg für den Glo­cken­guss lag sowie dar­an, dass der Her­zog den Kir­chen­ge­mein­den befoh­len hat­te, nur bei Chris­ti­an Lud­wig Mey­er Glo­cken gie­ßen zu las­sen.4 So ord­ne­te Her­zog Anton Ulrich am 17. Mai 1704 an, dass er das dem vor­mals „Unsern Stück­gie­ßer und lie­ben getreu­en Hei­so Mey­er ver­lie­he­ne Pri­vi­le­gi­um, kraft des­sen er die Frei­heit gehabt, die Glo­cken all­hier im Lan­de allein zu gie­ßen, nach des­sen Abster­ben auf sei­nen Sohn Unse­ren jet­zi­gen Stück­gie­ßer Chris­ti­an Lud­wig Mey­er gnä­digst erten­di­ret habe.“5 Da jedoch schon zu Leb­zei­ten das Pri­vi­leg nicht geach­tet wur­de, „so befeh­len Wir allen unse­ren Beam­ten, des­glei­chen den Geist­li­chen und Kir­chen­vor­ste­hern und allen denen, die Glo­cken künf­tig gie­ßen las­sen, daß sie bei Stra­fe nur unsern Stück­gie­ßer allein her­an­zie­hen sol­len.“6
Natür­lich hiel­ten sich auch bei Chris­ti­an Lud­wig Mey­er die Kir­chen­ge­mein­den nicht an die­se her­zog­li­che Ver­ord­nung, son­dern lie­ßen ihre Glo­cken bei ande­ren Gie­ßern fer­ti­gen. In der St. Vin­cenz­ge­mein­de leis­te­te man aber der Anord­nung des Her­zogs Fol­ge und beauf­trag­te den her­zog­li­chen Stück- und Glo­cken­gie­ßer Chris­ti­an Lud­wig Mey­er mit dem Umguss der gro­ßen Glo­cke. Chris­ti­an Lud­wig Mey­er war ein sehr geschäfts­tüch­ti­ger Gie­ßer, das Mono­pol half ihm natür­lich dabei. Er war aber auch bestrebt die­ses Mono­pol zu behal­ten und vor allem auch durch­zu­set­zen, denn es gab durch­aus kon­kur­rie­ren­de Glo­cken­gie­ßer auch in Braun­schweig.
Kaum hat­te er das Pri­vi­le­gi­um erhal­ten, so beklag­te er sich bereits am 5.Oktober 1705 bei der Fürst­li­chen Regie­rung über den Braun­schwei­ger Gie­ßer Are­ndt Gre­ten, der von der Gemein­de in Dett­um einen Auf­trag zum Glo­cken­guss erhielt. Er for­der­te, dass Gre­ten den Auf­trag sofort abge­ben sol­le.7 Nicht nur im Bereich des Her­zog­tums, auch dar­über hin­aus lie­fer­te Chris­ti­an Lud­wig Mey­er zahl­rei­che Glo­cken aus, so etwa in die gesam­te Harz­re­gi­on bis hin nach Thü­rin­gen. Für die St. Mari­en­kir­che im thü­rin­gi­schen Mühl­hau­sen goss er bereits im Jah­re 1701 eine sei­ner größ­ten Glo­cken mit einem Durch­mes­ser von 1,69 Meter und einem Gewicht von etwa 3 Ton­nen bei dem Schlag­ton b°.8 Die Glo­cke ist heu­te noch erhal­ten. Sein größ­tes Werk ist hin­ge­gen im Zwei­ten Welt­krieg zu Rüs­tungs­zwe­cken ver­nich­tet wor­den. Es war die 1708 gegos­se­ne Fest­glo­cke für die Markt­kir­che St. Bene­dic­ti in Qued­lin­burg. Die Glo­cke besaß einen Durch­mes­ser von 2,26 Meter und dürf­te etwa um die 5 Ton­nen gewo­gen haben.9 Sie war damit eine der größ­ten Glo­cken Mit­tel­deutsch­lands.
Aber auch die gro­ße Glo­cke von St. Vin­cenz muss sich nicht ver­ste­cken, zähl­te sie doch eben­so zu den größ­ten von Chris­ti­an Lud­wig Mey­er gegos­se­nen Glo­cken. Bei einem Durch­mes­ser von 1,56 wiegt sie immer­hin über 2 Ton­nen. Chris­ti­an Lud­wig Mey­er ver­starb im Jah­re 1723 oder 1724 im Alter von 64 Jah­ren. Mit ihm schloss schließ­lich die Tätig­keit der Fami­lie Mey­er als Glo­cken­gie­ßer im Land Braun­schweig ab.
Der Schlag­ton der größ­ten Glo­cke­des St. Vin­cenz­ge­läu­tes liegt bei h° ‑6 sech­zehn­tel Halb­tö­nen. Damit ist die Glo­cke für die­sen tie­fen Ton vom Gewicht her recht leicht. Für die Barock­zeit ist dies durch­aus eine typi­sche Ver­tre­te­rin einer Glo­cke, da man in die­ser Zeit Glo­cken in eher leich­ter Rip­pe – gemeint ist damit die Wan­dungs­stär­ke – gegos­sen hat. Typisch für Glo­cken von Chris­ti­an Lud­wig Mey­er ist eine ver­hal­te­ne Zier, die man auch an die­ser Glo­cke wie­der­fin­det. Mit­tels Ste­gen – also umlau­fen­den Lini­en – ist die Glo­cke in ihre ein­zel­nen Abschnit­te geglie­dert, wie etwa dem Schlag­ring, dem dar­über lie­gen­den Wolm, der Flan­ke und der Schul­ter. Typisch für Mey­er-Glo­cken ist der Zier­fries mit Akan­thus­blät­tern an der Schulter.

Die gro­ße Glo­cke von St. Vincenz

Die 1790 von Johann Hein­rich Wicke gegos­se­ne Glo­cke für die St. Vin­cenz­kir­che besitzt bei einem Durch­mes­ser von 1,14 m ein Gewicht von 849 kg und erklingt mit dem Schlag­ton f1 ±0 sech­zehn­tel Halb­ton. Sie ist damit die mitt­le­re Glo­cke im Geläut. Zwei Reli­efs befin­den sich auf der Glo­cke. Sie sind iden­tisch mit den Reli­efs auf der gro­ßen Glo­cke und zei­gen zum einen den Hei­li­gen Vin­cenz und zum ande­ren das Schö­nin­ger Stadt­wap­pen. An der Schul­ter der Glo­cke fin­det sich ein Arkan­thus-Pal­met­ten­fries, wel­ches Wicke durch­weg bis zum Jah­re 1817 an sei­nen Glo­cken anbrach­te und danach erst vari­ier­te durch ande­re Frie­se wie Lor­beer­zwei­ge, Rosen, Eichen- oder Wein­blät­ter mit Trau­ben. Die bei­den Inschrif­ten­tei­le, die sich auf zwei Flan­ken­sei­ten der Glo­cke ver­tei­len, sind wie bei der gro­ßen Glo­cke in einen welt­li­chen und einen geist­li­chen Teil unter­teilt. Ins­ge­samt muss aller­dings fest­ge­stellt wer­den, dass sich die Auf­trag­ge­ber kei­ne gro­ße Mühe mach­ten bei der Aus­wahl der Tex­te, denn sie ent­hal­ten ledig­lich Abfol­gen von Namen. Eine lit­ur­gi­sche Inschrift ist über­haupt nicht vor­han­den. Der geist­li­che Teil der Inschrift nennt die Namen der Funk­ti­ons­trä­ger von St. Vin­cenz, wie etwa den Pas­tor, den Dia­kon, den Kan­tor, den Orga­nis­ten und die Kir­chen­vor­ste­her. Der ande­re Teil der Inschrift nennt die Namen des welt­li­chen Gegen­übers, den Bür­ger­meis­ter, Käm­me­rer und die Rats­ver­tre­ter. Dar­un­ter fin­det sich im Schlag­ring­be­reich der Name des Glo­cken­gie­ßers sowie das Guss­jahr ver­merkt.

Instand­hal­tung der Glo­cken
Glo­cken benö­ti­gen selbst­ver­ständ­lich auch Pfle­ge, denn sie selbst und die zuge­hö­ri­gen Arma­tu­ren unter­lie­gen natür­lich auch dem Ver­schleiß. Und so berich­ten die Quel­len aus­führ­lich über die jewei­li­gen Repa­ra­tu­ren und Instand­hal­tungs­ar­bei­ten zu den Glo­cken. Als Bei­spie­le kön­nen Aus­zü­ge aus den Quel­len des 19. Jahr­hun­derts die­nen, die ver­deut­li­chen, wel­che Mühen es mach­te, ohne grö­ße­re tech­ni­sche Hilfs­mit­tel die Glo­cken instand zu hal­ten.15 So wird berich­tet, dass sich im Okto­ber 1820 die bei­den gro­ßen Glo­cken von ihrem Joch – also ihrer Auf­hän­gung – gelo­ckert und die Ver­bin­dung zur Wel­le sich gelöst habe. Zudem wird ange­zeigt, dass sich der gesam­te Glo­cken­stuhl gesenkt habe. Dies bedeu­te­te natür­lich ein gro­ßes Scha­dens­bild, was auch mit erheb­li­chem Auf­wand repa­riert wer­den muss­te. So berich­ten die Quel­len, dass für die­se Repa­ra­tur 13 star­ke Män­ner und drei gro­ße Hebe­zü­ge ein­ge­setzt wur­den. Die extra ange­fer­tig­ten Win­den, Hebel, Stre­be­bän­der und Klam­mern wur­den nach Abschluss die­ser schwie­ri­gen Repa­ra­tur zur wei­te­ren spä­te­ren Ver­wen­dung unter dem Dach des Lei­chen­hau­ses ein­ge­la­gert. Im März 1822 brach der Klöp­pel der gro­ßen Glo­cke ab. Man ver­such­te den abge­bro­che­nen Klöp­pel zu schwei­ßen, was aber gera­de ein­mal ein Jahr lang hielt, denn im Juli des dar­auf fol­gen­den Jah­res brach der Klöp­pel erneut an sei­ner Schad­stel­le. Die­ses Mal wur­de schließ­lich das Geld für einen neu­en Klöp­pel bewil­ligt und ein sol­cher neu geschmie­det. Ein wei­te­rer Quel­len­aus­zug aus dem Jah­re 1833 besagt, dass die Auf­hän­gung der Glo­cken wie­der­um erneu­ert wer­den muss­te. Dafür wur­de die gro­ße Glo­cke am 17. Mai aus der Pfan­ne geho­ben – das ein­ge­la­ger­te Hebe­zeug dafür hat­te man vom Dach des Lei­chen­hau­ses geholt. Einen Tag spä­ter wur­de auch die mitt­le­re Glo­cke aus dem Glo­cken­stuhl geho­ben, wobei fest­ge­stellt wur­de, dass die Achs­zap­fen des Joches schon bis über die Hälf­te abge­schlif­fen waren und somit unbe­dingt erneu­ert wer­den muss­ten, woll­te man nicht einen Glo­cken­ab­sturz ris­kie­ren. Im Zuge die­ser Arbei­ten wird auch berich­tet, dass der Glo­cken­stuhl nach­ver­keilt wurde.

Das wel­fi­sche Ross als Sym­bol für den Her­zog bzw. das Herzogtum

All die­se Bemü­hun­gen müs­sen natür­lich auch unter dem beson­de­ren Aspekt betrach­tet wer­den, dass die­ses Geläut die Unbil­den der Ver­gan­gen­heit bis heu­te glück­li­cher­wei­se über­lebt hat, denn vie­le Glo­cken die­ses Alters haben dies nicht. Krie­ge haben immer wie­der zahl­rei­che gro­ße Ver­nich­tungs­ak­tio­nen auch von Glo­cken her­vor­ge­ru­fen. Die bei­den gro­ßen Welt­krie­ge waren die trau­ri­gen Höhe­punk­te, zog man die Glo­cken doch zu tau­sen­den zur Rüs­tungs­pro­duk­ti­on ein und ver­nich­te­te sie. So geschah es auch mit den Glo­cken von St. Vin­cenz. Im Ers­ten Welt­krieg konn­ten die Glo­cken der Ver­nich­tungs­ak­ti­on noch ent­kom­men, wie der sta­tis­ti­sche Fra­ge­bo­gen aus dem Lan­des­kir­chen­amt belegt.16

Kriegs­jah­re
Am 15. März 1940 erlie­ßen die Natio­nal­so­zia­lis­ten durch den dama­li­gen Reichs­mar­schall Her­mann Göring die Anord­nung an alle Kir­chen­ge­mein­den des Rei­ches, ihre Glo­cken abzu­lie­fern. Schon am 25. Mai 1940 wur­de eine Ver­schie­bung der Abga­be ange­ord­net mit der Begrün­dung, dass man die Glo­cken noch für das Sie­ges­läu­ten benö­ti­ge.
Der wah­re Grund war jedoch, dass sich bei der Bevöl­ke­rung Unmut über die­ses Vor­ge­hen breit mach­te. Man betrach­te­te die Akti­on als kir­chen­feind­li­che Maß­nah­me, die es natür­lich auch war. Zu den stän­di­gen Sie­ges­mel­dun­gen und Ver­si­che­run­gen, dass die Reser­ven uner­schöpf­lich sei­en, stand die Ablie­fe­rung der Glo­cken in stren­gem Wider­spruch. Die­se Ansicht fes­tig­te sich zudem, als bekannt wur­de, dass die Maß­nah­men mög­lichst unauf­fäl­lig durch­zu­füh­ren sei­en. Sämt­li­che Glo­cken des Rei­ches wur­den in die­ser Akti­on akri­bisch erfasst und in vier Kate­go­rien (A bis D) klas­si­fi­ziert, je nach musi­ka­li­scher und his­to­ri­scher Wer­tig­keit. Die Glo­cken soll­ten dar­auf­hin aus­ge­baut und ver­hüt­tet wer­den. Den meis­ten Gemein­den fiel es selbst­ver­ständ­lich schwer, sich von ihren Glo­cken zu tren­nen. Um dies auch nach Außen hin zu doku­men­tie­ren, reg­te der Geist­li­che Ver­trau­ens­rat der Evan­ge­li­schen Kir­che durch Auf­ruf zu Glo­cken­op­fer­fei­ern an.
Das Reichs­kir­chen­minis­te­ri­um reagier­te prompt dar­auf und ver­füg­te an die evan­ge­li­schen und katho­li­schen Kir­chen­be­hör­den das beson­de­re Glo­cken­ab­nah­me­fei­ern zu unter­las­sen sei­en.17 Natür­lich hiel­ten sich die Gemein­den nicht immer dar­an. Auch die St. Vin­cenz­ge­mein­de gehör­te dazu, denn der dama­li­ge Pfar­rer Hint­ze von St. Vin­cenz schrieb am 30. Juli 1940 an das Lan­des­kir­chen­amt: Auf­grund des Rund­schrei­bens des Geist­li­chen Ver­trau­ens­ra­tes vom 26. April 1940 hat­te ich eine Glo­cken-Opfer­fei­er ver­an­stal­tet, aller­dings nicht am Mut­ter­ta­ge, um den Pre­digt­ge­dan­ken nicht zu hal­bie­ren, son­dern erst spä­ter. Nach dem Got­tes­dienst (Jer. 22,29), ver­sam­mel­te sich die zahl­rei­che Gemein­de auf dem Kirch­platz und es fand das in dem Rund­schrei­ben ange­ord­ne­te, „letz­te Geläut“ statt. Nach die­sem letz­ten Geläut habe ich dann die „zur Ablie­fe­rung bestimm­ten Glo­cken“ nicht mehr läu­ten las­sen; es wäre ja sonst kein „letz­tes“ Geläut gewe­sen, wie es ange­regt war.18 Für die St. Vin­cenz­ge­mein­de bestand die Anord­nung, die bei­den größ­ten Glo­cken des Geläu­tes abzu­lie­fern, die kleins­te Glo­cke durf­te eine Gemein­de in der Regel noch behal­ten. Natür­lich nur die kleins­te Glo­cke, da sie am wenigs­ten Metall­wert darstellte.

Als wei­te­re Zier fin­den wir auf den bei­den Flan­ken­sei­ten der Glo­cke ver­teilt drei Reliefs.

So wur­den die bei­den größ­ten Glo­cken schließ­lich demon­tiert und nach Ham­burg auf den so genann­ten Glo­cken­fried­hof – ein Sam­mel­la­ger für tau­sen­de von Glo­cken – trans­por­tiert. Auf dem Ham­bur­ger Glo­cken­fried­hof ver­such­ten Denk­mal­pfle­ger und Kunst­his­to­ri­ker noch so gut es ging die Glo­cken der Kate­go­rie B und C zu erfas­sen und zu doku­men­tie­ren. Dazu wur­den die Glo­cken zumeist foto­gra­fiert, und näher beschrie­ben. Für jede Glo­cke ent­stand eine Kar­tei­kar­te. So wur­den von den bei­den abge­lie­fer­ten Glo­cken der St. Vin­cenz­kir­che eben­falls Kar­tei­kar­ten ange­fer­tigt.19 Es war ein gro­ßes Glück, dass das Kriegs­en­de nah­te und auch die Affi­nie­rie in Ham­burg von Bom­ben zer­stört war, so dass kei­ne wei­te­ren Glo­cken ein­ge­schmol­zen wer­den konn­ten. Die ver­blie­be­nen Glo­cken wur­den nach Kriegs­en­de durch einen gebil­de­ten Rück­füh­rungs­aus­schuss an ihre Hei­mat­ge­mein­den zurück gesandt, so auch die bei­den gro­ßen Glo­cken von St. Vin­cenz. Sie tra­fen am 5. Juli 1947 in Schö­nin­gen ein und wur­den im Turm wie­der auf­ge­hängt.20
Lei­der erfolg­te die Auf­hän­gung an gekröpf­ten Stahl­jo­chen, die den Glo­cken sowohl musi­ka­lisch aber vor allem auch mate­ri­al­tech­nisch gescha­det haben und sie über Gebühr stark bean­sprucht haben.21 Zu einem nicht näher bekann­ten Zeit­punkt wur­de die Auf­hän­gung jedoch wie­der ver­än­dert, so dass die Glo­cken heu­te an gera­den Holz­jo­chen läu­ten. Im Jah­re 1950 erfolg­te die letz­te grö­ße­re tech­ni­sche Neue­rung, näm­lich die Elek­tri­fi­zie­rung des Geläu­tes. Waren bis dahin allein vier kräf­ti­ge Män­ner zum Läu­ten der gro­ßen Glo­cke not­wen­dig, wie eine Quel­le aus dem Jah­re 1805 berich­tet, so war fort­an nur noch eine Per­son für das gesam­te Geläut erfor­der­lich.22

Der Hei­li­ge St. Vin­cenz als Patron der Kirche

Neben der Beson­der­heit, dass sich in St. Vin­cenz ein voll­stän­di­ges Geläut aus dem 18. Jahr­hun­dert erhal­ten hat, wenn auch nicht aus einer Gie­ßer­hand, ist es vor allem die musi­ka­li­sche Dis­po­si­ti­on, die die­ses Geläut nahe­zu ein­zig­ar­tig und unver­wech­sel­bar macht. Ein wei­te­res Geläut in die­ser Dis­po­si­ti­on konn­te vom Ver­fas­ser bis­her in Deutsch­land nicht aus­ge­macht wer­den. Musi­ka­lisch umfasst das drei­stim­mi­ge Geläut eine Okta­ve von h° zu h1, wobei zwi­schen die­sen Oktav­ab­stand die mitt­le­re Glo­cke mit dem Schlag­ton f1 gesetzt wur­de. Die­se musi­ka­li­sche Dis­po­si­ti­on ist für ein drei­stim­mi­ges Geläut höchst unge­wöhn­lich. Der Grund für die­se beson­de­re Dis­po­si­ti­on ist nicht ersicht­lich, zumal es auch kei­ne Quel­len dar­über gibt. Man mag fast ver­mu­ten, dass die Ent­wick­lung der Glo­cken­mu­sik hier noch im 14. Jahr­hun­dert ste­hen geblie­ben ist, ledig­lich mit der Vor­ga­be eine gro­ße, eine mitt­le­re und eine klei­ne Glo­cke zu besit­zen.
Ab der zwei­ten Hälf­te des 15. Jahr­hun­derts war es Glo­cken­gie­ßern mög­lich Ton­rei­hen zu gie­ßen und musi­ka­lisch umzu­set­zen, bei­spiels­wei­se die Ton­fol­ge ut, re, mi. Damit konn­te man nun meh­re­re Glo­cken musi­ka­lisch auf­ein­an­der abstim­men und eine geschlos­se­ne musi­ka­li­sche Inter­vall­fol­ge, eine Ton­rei­he bil­den. In der St. Vin­cenz­kir­che hat man aller­dings in glo­cken­mu­si­ka­li­scher Hin­sicht kei­ne die­ser geschlos­se­nen Ton­rei­hen, son­dern ein drei­stim­mi­ges Geläut, wel­ches sich über eine gan­ze Okta­ve erstreckt und dazwi­schen eine mitt­le­re Glo­cke ein­fügt. Die Inter­vall­ab­stän­de der ein­zel­nen Schlag­tö­ne zuein­an­der sind dabei sehr groß und umfas­sen jeweils eine so genann­te über­mä­ßi­ge Quar­te, den so genann­ten Tri­to­nus. Die­ser Tri­to­nus – musi­ka­lisch auch als Teu­fels­in­ter­vall bezeich­net – ist zwei­mal vor­han­den, näm­lich zwi­schen der gro­ßen und mitt­le­ren und der mitt­le­ren und klei­nen Glo­cken. Die Ver­wen­dung des Tri­to­nus ist in Glo­cken­dis­po­si­tio­nen sel­ten, in zwei­fa­cher Ver­wen­dung inner­halb eines drei­stim­mi­gen Geläu­tes abso­lut unge­wöhn­lich und nahe­zu nicht wei­ter zu fin­den.
Als Glo­cken musi­ka­lisch noch nicht auf­ein­an­der abge­stimmt wer­den konn­ten, wur­den in der Regel nur Ein­zel­glo­cken ver­wen­det, um bestimm­te lit­ur­gi­sche Ereig­nis­se anzu­kün­di­gen. Dies kann ursprüng­lich die Inten­ti­on die­ser Dis­po­si­ti­on gewe­sen sein, obwohl his­to­ri­sche Läu­te­or­dun­gen der St. Vin­cenz­kir­che aus dem 18. Jahr­hun­dert durch­aus das Läu­ten bei­spiels­wei­se von zwei Glo­cken, der gro­ßen und mitt­le­ren zu bestimm­ten Anläs­sen vor­sah.23 Die Grün­de für die musi­ka­li­sche Abstim­mung, wenn man denn davon aus­geht, dass sie in die­ser Form beab­sich­tigt war, müs­sen im Dun­keln blei­ben.
Die St. Vin­cenz­kir­che besitzt damit ein his­to­risch wert­vol­les Denk­mal­ge­läut, wel­ches durch sei­ne musi­ka­li­sche Abstim­mung zudem ein Allein­stel­lungs­merk­mal besitzt. Die Tat­sa­che, dass im Jah­re 2016 der 300. Geburts­tag der gro­ßen Glo­cke gefei­ert wer­den konn­te zeigt, dass der Gemein­de die­se Tat­sa­che nicht einer­lei ist und sie sich die­ses beson­de­ren Kul­tur­schat­zes bewusst ist.
Fast jede Gene­ra­ti­on – von der Zwangs­ab­lie­fe­rung der Glo­cken im Zwei­ten Welt­krieg abge­se­hen – hat dazu bei­getra­gen das Geläut zu erhal­ten und zu pfle­gen. Und so ist zu wün­schen, dass auch die zukünf­ti­gen Gene­ra­tio­nen das Geläut wert­schät­zen und erhal­ten, damit es sei­ner Auf­ga­be wei­ter­hin nach­kom­men und ver­kün­den kann: SOLI DEO GLORIA.

Sebas­ti­an Wamsied­ler (Cam­pa­no­lo­ge und geprüf­ter Glockensachverständiger)