Vor 100 Jahren
Die Waffen schwiegen – doch die Not blieb Schöningen in den Jahren 1918 — 1923
Am 11. November 1918 wurde der 1. Weltkrieg zumindest an der Westfront durch einen Waffenstillstand beendet. Die nach der Abdankung des Kaisers und der Landesfürsten jetzt Verantwortlichen übernahmen ein schweres Erbe. Die nachfolgend beschriebenen Schwierigkeiten und Probleme waren in unterschiedlicher Ausprägung nicht nur auf Schöningen beschränkt sondern ergaben sich überall im Deutschen Reich.
In ihren ersten Verlautbarungen auf allen staatlichen und kommunalen Ebenen wurden die Probleme nicht verschwiegen. In dem Bericht im „Schöninger Anzeiger“ vom 12. November 1918 über die Gründung des örtlichen Arbeiter- und Soldatenrates heißt es:
„Es gelte einen Neuaufbau zu gründen, der eine bessere Zukunft verheiße. […] Wir haben eine neue Regierung, die aus einem Schutthaufen Neues aufbauen soll. Diese muss in ihrem schweren Beginnen unterstützt werden, denn sie trägt schwere Verantwortung. Der schwierigste Teil sei die Volksernährung und wenn die Regierung noch so freiheitlich sei, die für die Volksernährung gegebene Richtschnur könne und dürfe sie im allgemeinen nicht überschreiten, wenn nicht die Ernährung bis zur nächsten Ernte gefährdet werden soll …“
Die im Verlauf des Krieges immer umfangreicheren Einschränkungen der Lebensmittelversorgung galten für eine lange Zeit weiter-hin.
Karl Rose zitiert im Band I seines Heimatbuches (Seite 234–235) aus einem Aufruf des Arbeiter- und Soldatenrates und des Stadtmagistrats vom 11. November:
„Wer beim Rauben oder Plündern betroffen wird, wird standrechtlich erschossen werden.“
Diese Strafandrohung wird durch das Gesetz über Volksstandgerichte des Braunschweiger Arbeiter- und Soldatenrates vom 16. November konkretisiert.
Darin bestimmt der § 1 unter anderem: „Mit dem Tode wird bestraft: wer plündert, raubt, … wer vorsätzlich Lebens- und Futtermittel vernichtet, . wer den Eisenbahn- und sonstigen Transportverkehr vorsätzlich schädigt oder gefährdet“.
Das Gesetz wurde durch Beschluss der Landesversammlung vom 21. Juni 1919 aufgehoben. Ob es tatsächlich angewendet wurde, ist mir bisher nicht bekannt. In verschiedenen weiteren Gesetzen und Anordnungen wurde die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Energie ebenfalls behandelt, so z. B.
im Gesetz über die Demobilisation der Garnison Braun-schweig vom 11.11.1918. Die Entlassenen erhielten lediglich die entsprechende Verpflegung für die Dauer der Reise zu ihrem letzten Wohnort vor Einziehung zum Heeresdienst und hatten alle Bestände an Nahrungsmitteln an die Zivilverwaltung zu übergeben.
- dem Gesetz über die Erleichterung des Ährensammelns vom 5. August 1919. Danach war das Ährensammeln auf abgeernteten Äckern straffrei. Das Umpflügen der Äcker, die mit Getreide bestellt waren, durfte frühestens am 4. Tage nach der Aberntung erfolgen.
- dem Gesetz über die Einrichtung von Landeseinwohnerwehren vom 26. August 1919. Sie wurden unter anderem gebildet, zum „Schutz gegen die mit der schweren Lebensmittelnot zunehmende Unsicherheit in Stadt und Land und zur Sicherheit von Leben und Eigentum der Einwohnerschaft gegen Plünderung und Diebstahl“.
- den Vorschriften zum Zwecke der Ersparnis von Brennstoffen und Beleuchtungsmitteln vom 31. Oktober 1919 auf der Grundlage von Verordnungen des Bundesrates aus den Jahren 1916 — 1918.
Danach war das Beheizen von Räumen z. B. in Gast- und Speisewirtschaften zeitlich und räumlich begrenzt. Warme Bäder durften in Hotels und Pensionen nicht verabreicht, Kirchen und Synagogen durften nur zu bestimmten Feiertagen beheizt werden.
Diese Vorschrift war bis zum 29. Februar 1920 begrenzt.
- und der Notverordnung wegen Errichtung eines Landespolizeiamtes gegen Wucher und Preistreiberei vom 30. September 1922 auf Grund des Artikels 40 der Verfassung (Anmerkung: des Freistaates Braunschweig) Im einzigen Paragrafen der Verordnung heißt es:
„Seine Aufgabe ist, verbotene Handlungen auf dem Gebiete des Wuchers und der Preistreiberei nach Maßgabe der Gesetze zu verfolgen und die Täter der Bestrafung zuzuführen.“
Die amtlichen Regelungen hinsichtlich der Regulierung der Mengen und Preise von knappen Wirtschaftsgütern blieben offensichtlich ohne durchgreifende Wirkung. Es kam in den folgenden Jahren immer wieder nicht nur in Schöningen zu Protesten gegen Wucher und Schleichhandel (heute: Schwarzhandel).
Die entsprechenden Vorschriften stammten überwiegend noch aus der Zeit des Weltkrieges.
Wie heikel die Situation in Schöningen war, lässt ein mit „EILT“ gekennzeichnetes Schreiben der Stadtverwaltung vom 22. Januar 1919 an das Volkskommissariat für Inneres und Finanzen erahnen. Dort wird über die Demonstration am selben Tag aus Protest gegen die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht berichtet.
Einer der nicht namentlich bezeichneten Redner soll darauf hingewiesen haben, „dass es letzten Endes dahin kommen könne, dass die Zuhörer hungern müssten. Wenn der Hunger sich einstellte, dann sollten sie die Lebensmittel nehmen, wo sie sie fänden. Außerdem ist uns von dem Lagerhalter unseres Mehllagers mitgeteilt, dass sein Knecht, der an dem Umzuge sich beteiligt habe, ein Gespräch belauscht habe, nachdem eine Beraubung unseres Mehllagers beabsichtigt sei.“
Bürgermeister Schulz weist abschließend darauf hin, dass die Aufforderung zum Generalstreik (Anmerkung: der nicht nur in Schöningen befolgt wurde) und insbesondere die Aufforderung, sich Lebensmittel zu nehmen, wo welche zu haben sind, die ganze Lebensmittelversorgung der Stadt in Frage stellen und die Sicherheit des Privateigentums und des Lebens der Bürger auf das Schärfste gefährden würde.
Die mir zur Verfügung stehenden Quellen belegen keine Plünderung des Mehllagers. Der Ernährungsminister Otto Antrick (MSPD) erließ am 18. Oktober 1920 zur Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung ein Ausfuhrverbot für Kartoffeln aus dem Land Braunschweig.
Den Landwirten wurde gleichzeitig auferlegt, 100.000 Zentner Kartoffeln abzuliefern. Das Ausfuhrverbot stieß auf massiven Protest der Reichsregierung, da diese Maßnahme Nachahmer finden und damit die Belieferung der industriellen Zentren aus landwirtschaftlichen Überschussgebieten unmöglich machen könnte. Das hätte wiederum Unruhen und wohl auch Hunger bedeutet. Antrick musste das Ausfuhrverbot daher am 20. November aufheben.
(Quelle: Bernd Rother,
Die Sozialdemokratie im Land Braunschweig 1918 bis 1933,
Bonn 1990, Seite 119)
Seitens der Bürgerschaft wurden im Rahmen der örtlichen Möglichkeiten etliche Maßnahmen zur Linderung der wirtschaftlichen und sozialen Not ergriffen. So wurde im November 1920 die „Schöninger Kinderhilfe“ gegründet (Rose I, Seite 252 f). Bereits vor der Gründung dieser Vereinigung wurden durch das Gewerkschaftskartell während des Sommers regelmäßig Kinderausflüge in den Elm veranstaltet. Im selben Zeitraum verschickte das städtische Wohlfahrtsamt gesundheitsgefährdete Kinder in Erholungsheime. Die Kosten wurden anteilig durch die Stadtverwaltung, aus Mitteln verschiedener Stiftungen und durch öffentliche Veranstaltungen der Kinderhilfe gedeckt. Rose erwähnt mehrere Kinderspeisungen in den Sommerferien 1921 im Elm, an denen jeweils 120 Kinder teilgenommen hätten.
Diese Aktion sei in den Wintermonaten mit Schulspeisungen fortgesetzt worden, bei denen „gesundheitsgefährdeten Kindern täglich ein Becher warme Milch und ein Brötchen verabfolgt wurde“. Die Kinderverschickungen seien in den folgenden Jahren mit gutem Erfolg fortgesetzt worden. Angesichts der Not großer Bevölkerungskreise blieb es nicht aus, dass sich gegen diese Zustände Protest formierte.
So kam es am 2. September 1921 im Anschluss an eine Versammlung von 2.000 Bergleuten des Tagebaues 3 der Grube Treue zu einem Demonstrationszug von ca. 4.000 Menschen durch die Schöninger Innenstadt. Es wurden nach einem Bericht im „Schöninger Anzeiger“ u.a. 8 rote Fahnen und 4 Galgen mit der Aufschrift „Für Schieber und Wucherer“ mitgeführt.
An diesem Nachmittag kam praktisch das wirtschaftliche Leben in Schöningen und vielen Orten der Umgebung zum Erliegen, da sich auch Arbeiter aus den Nachbarorten an der Demonstration beteiligten. Der Protest richtete sich nicht nur gegen „Preiswucher“ sondern auch gegen „Mordüberei“, denn wenige Tage vorher, am 26. August, war der Reichstagsabgeordnete Matthias Erzberger ermordet worden. Der Zug endete auf dem Burgplatz, wo 5.000 – 6.000 Menschen den Ansprachen von Rednern der USPD, der MSPD und der KPD folgten. Die Menge, im Zeitungsbericht „Volksversammlung“ genannt, formulierte zum Abschluss der Veranstaltung eine Resolution:
Text laut Rose Band I, Seite 257 (auszugsweise zitiert):
„Um dieses zu erreichen, bringen die Versammelten zum Ausdruck, dass sie die Einheitsfront des Proletariats gegen den Kapitalismus herzustellen bestrebt sind, damit sie mit größtem Nachdruck der Ausbeutung entgegentreten können. Die Versammelten verlangen von der Braunschweigischen Staatsregierung, dass sie alle Mittel in Anwendung bringt, dass
1. von der Reichsregierung Maßnahmen getroffen werden, die jede Beiwucherung auf dem Gebiete der Nahrungsmittelbeschaffung ausschließen,
2. die Reichsregierung alles unterlässt, was in Form von Steuern den allgemeinen Verbrauch noch weiter belastet. Sollte die Reichsregierung nicht in der Lage sein, dieses Verlangen erfüllen zu können, so fordern die Versammelten den Rücktritt der sozialistischen Mitglieder des Kabinetts und die Auflösung des Reichstages. Ferner geloben die Versammelten, den Kampf gegen die Orgesch, Stahlhelm und verwandte Organisationen aufzunehmen und jeden Versuch dieser Kreise, öffentlich aufzutreten, den stärksten Widerstand entgegenzusetzen. „Die Stadtverwaltung versuchte mit Hilfsaktionen für Kleinrentner und andere hilfsbedürftige Personen der wirtschaftlichen Not entgegenzuwirken. Zur Minderung der ungehindert steigenden Lebenshaltungskosten wurden im Verlauf des Jahres 1922 (an Kleinrentner und sonstige Hilfebedürftige Kartoffeln verbilligt abgegeben, es wurden Kohlen an 130 Familien zum halben Tagespreis und Obst an ca. 300 Familien kostenlos abgegeben. Eine Sammlung der Deutschen Notgemeinschaft an Geld und Naturalien ermöglichte es 31 Personen zeitweise so genannte Freitische zu nutzen.
Ab August wurde an bedürftige Familien Milch z.T. verbilligt, z.T. kostenlos abgegeben (nach Rose Band I, Seite 258). Im August und November demonstrierte auch in Braunschweig die Bevölkerung gegen die unhaltbaren Zustände. Es kam dort zu Plünderungen. Die Proteste blieben folgenlos, die Preise stiegen unvermindert weiter und erreichten 1923 Schwindel erregende Höhen. Am 10. August kam es dann auch hier zu ersten Unruhen.
Viele Schöninger, aber auch Auswärtige, fanden sich in der Innenstadt zusammen. Mehrere Bäckereien, eine Fleischerei und ein Schuhgeschäft erhielten von der erregten Menge ungebetenen Besuch. Die Inhaber wurden gezwungen, ihre Waren zu herabgesetzten Preisen abzugeben. Die Stimmung in der Bevölkerung war an einem Siedepunkt angelangt, da die Löhne mit den unaufhaltsam steigenden Preisen für die Waren des täglichen Bedarfs schon lange nicht mehr Schritt halten konnten. Am 23. Oktober entlud sich die Wut über diese Zustände in Gewaltaktionen. Es wurden Lebensmittelgeschäfte geplündert und verschlossene Geschäfte auf-gebrochen.
Karl Rose beschreibt die Szenen in Band I seines Heimatbuches mit folgenden Worten:
„Durch die Straßen der Stadt liefen Frauen mit riesigen uneingewickelten Margarineblöcken, die sie aus den Läden geholt hatten und kaum tragen konnten. Man sah Butter in den Gossen liegen, man sah, wie Frauen ihren Geschlechtsgenossinnen, die beim Plündern erfolgreich gewesen waren, in die Haare gerieten, wie sie sich gegenseitig die Butter ins Gesicht schmierten. […] Dann ging es an die Konfektions- und Kurzwarengeschäfte. Fensterscheiben wurden zerbrochen, Zeug wurde von vielen danach greifenden Händen zerrissen, es herrschte ein tolles Treiben“ (Seite 261).
Die Schöninger Polizei stand diesen Ausschreitungen machtlos gegenüber und forderte Hilfe aus Braunschweig an. Gemeinsam gelang es den Sicherheitskräften dann, die Plünderungen zu unterbinden und die Lage vorerst zu beruhigen. Am nächsten Tag blieben die meisten Geschäfte geschlossen. Die Polizei begann mit Hausdurchsuchungen nach geplünderten Waren. Dies war dann der Anlass für erneute Handgreiflichkeiten der weiterhin erregten Bevölkerung. Zitat Rose:
„Es kam wieder zu Ansammlungen auf dem Marktplatz und zu Zusammenstößen mit der Schupo, wobei es verschiedene Verletzte auf beiden Seiten gab. Schließlich wurde die (Anmerkung: Braunschweiger) Schupo unter Oberleutnant Möhle ohne Blutvergießen entwaffnet und gezwungen, auf ihrem Auto die Stadt zu verlassen.“ (Seite 262)
Am Abend dieses Tages rückte daher zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung die Reichswehr aus Braunschweig mit drei Lastkraftwagen in Schöningen ein. Es wurde der Belagerungszustand ausgerufen, Hausdurchsuchungen durchgeführt, Waffen eingesammelt sowie mehrere Personen festgenommen. Auf dem Kirchhof von St. Vincenz wurden, durch ein Stacheldrahtverhau gesichert, ein Maschinengewehr und ein Minenwerfer aufgebaut. Von den Soldaten wurden etliche der Festgenommenen verprügelt. Bürgermeister Schelz schritt energisch gegen dieses Treiben ein.
Rose schreibt:
„Erst nach mehrwöchigem Aufenthalte hier kehrte die Reichswehr nach Braunschweig zurück“ (Seite 262).
Diese Gewaltausbrüche führten in der Stadtverordnetenversammlung zu einer lebhaften Debatte. Insbesondere das Verhalten der Soldaten gegenüber Festgenommenen wurde einmütig kritisiert, aber auch die Leitung der Kohlegruben geriet in die Kritik, da sie eine Anpassung der Löhne an die steigenden Preise versäumt hätte.
Angesichts des Brotpreises von 3 Milliarden Mark bei einem Wochenlohn von 2 Milliarden Mark konnten die Bergleute nur Kartoffeln statt Brot als Verpflegung in die Schicht mitnehmen.
Es kam auch zur Sprache, dass die Rädelsführer der Krawalle wohl aus Hötensleben gekommen seien. Die Nachbargemeinde erlebte dann am 31. Oktober eine große Polizeiaktion. Nach einer Meldung im „Wochenblatt“ (Tageszeitung aus Neuhaldensleben) vom 4. November durchsuchten 500 Schutz- und Kriminalbeamte aus Preußen und Braunschweig die Gemeinde und beschlagnahmten „eine Anzahl Pistolen und Revolver“ sowie verschiedene Gegenstände. Eine Person sei festgenommen worden. Verfügung des Regierungspräsidiums Magdeburg vom 29.10.1923, I/18 Nr. 11168 (auszugsweise zitiert)
„Entsendung von Kriminal- und Schutzpolizei Zur Ermittlung der an den Schöninger Vorgängen beteiligten Personen, zur Herbeischaffung von Diebesgut, Waffen und sonstiger Beweismittel wird Kriminal- und Schutzpolizei eingesetzt. Hierzu stellen: Schutzpolizei Magdeburg: 2 Polizei — Bereitschaften, Polizeischule Burg: 1 Polizei-Hauptmann, 2 Polizei-Leutnants und 120 Polizei-Wachtmeister, Kriminalpolizei Magdeburg: 8 Kriminal-Kommissare und 80 Kriminal-Beamte, außerdem werden von der Polizei Braunschweig 80 Schutzpolizeibeamte und 20 Kriminal-Beamte gestellt. [ …] Die Schutzpolizei aus Braunschweig ist nur zur Absperrung zu verwenden. Das Unternehmen findet am 31. Oktober 1923 statt. Die Beamten sind so in Marsch zu setzen, dass spätestens um 5,30 früh der Ort Hötensleben umstellt ist. [ .… ..] Jeder Beamte der preußischen Schutzpolizei ist mit Karabiner und Pistole auszurüsten. Maschinen-Pistolen mitnehmen. [ .… ..] Die Mitnahme eines MG’s und von Handgranaten wird anheim gestellt.“ – Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Magdeburg Sig. C 30 Neuhaldensleben I 1098, Blatt 144- Das „Wochenblatt“ meldete am 9. November, dass 40 Beschuldigte in Untersuchungshaft genommen und gegen 90 Personen Strafverfahren eingeleitet worden seien.
Nach einem weiteren Bericht des „Wochenblatt“ kam es im November vor dem Landgericht Braunschweig zur ersten juristischen Aufarbeitung der Vorfälle. Wegen Plünderung, Widerstands gegen die Staatsgewalt, Zusammenrottung und unerlaubten Waffenbesitzes wurden Freiheitsstrafen zwischen 6 Monaten und 14 Tagen und einem Jahr verhängt. Nach diesen Unruhen bildete sich eine „städtische Notgemeinschaft“, die einen Aufruf an die Landbevölkerung richtete, Lebens-mittel zu spenden. Es konnten auf diese Weise hilfsbedürftige Familien mit verbilligten Lebensmitteln (Kartoffeln und Brot) versorgt werden, u. a. wurden 8.700 Brote ausgegeben. Angesichts der schlechten Ernährungsverhältnisse wurde auch die Volksküche wieder ins Leben gerufen. (Rose, Band I, Seite 262)
Ursachen und Auswirkungen der Geldentwertung
Die Finanzierung des 1. Weltkrieges mit Kosten von rund 164 Milliarden Mark erfolgte überwiegend durch die vermehrte Ausgabe von Geldscheinen. So verfünffachte sich die umlaufende Geldmenge vom Kriegsbeginn bis 1918 auf 33 Milliarden Mark. Finanzierungsquellen waren: Die Folge war eine riesige Staatsverschuldung, die nach dem Ende des Krieges fortgesetzt wurde, um die Umstellung der Kriegswirtschaft auf die Friedensproduktion sowie die Unterstützung der Kriegsopfer und der Hinterbliebenen zu sichern.
Hinzu kam die Reparationsforderung der Alliierten, die erstmals im April 1921 auf mehr als 132 Milliarden Mark beziffert wurden und in US-Dollar, Pfund Sterling und französischen Franc zu leisten waren. Die sich daraus ergebenden innenpolitischen Auseinandersetzungen, bis hin zu den Morden an Matthias Erzberger (26. August 1921) und Walter Rathenau (24. Juni 1922) sowie der Einmarsch von französischen und belgischen Truppen in das Ruhrgebiet Anfang Januar 1923 ließen den Außenwert der Mark ins Bodenlose fallen. Die Reichsregierung rief als Reaktion auf den Einmarsch zum passiven Widerstand der Bevölkerung durch einen Generalstreik im besetzten Gebiet auf. Damit die Streikenden unterstützt werden konnten, mussten die Notenpressen immer mehr Geldscheine drucken.
Im November 1923 ließ die Reichsbank als höchsten Wert einen Geldschein über 100 Billion Mark drucken (100.000.000.000.000).
Die galoppierende Inflation vernichtete Vermögenswerte und Spargelder von Generationen. Gleichzeitig verschlechterte sich die Versorgungslage der Bevölkerung zusehends. Der Reallohn sank auf ca. 40 Prozent des Vorkriegswertes, die Löhne und Gehälter konnten den steigenden Preisen für Waren und Dienstleistungen nicht mehr folgen. Ein geregeltes Wirtschaftsleben war angesichts dieser Zustände nicht mehr möglich. Die Auszahlung der Löhne erfolgte häufig täglich, teilweise wurde auch auf den Tauschhandel zurückgegriffen. So nahmen die beiden Schöninger Zeitungen als Zahlungsmittel für das Abonnement Naturalien an. Der Nationalökonom und Politiker Karl Helfferich (1872−1924) der von 1914–1918 die Mittel zur Finanzierung des Krieges konzipiert und damit die Vermehrung des Geldes ausgelöst hatte, entwarf jetzt den rettenden Plan. Es wurde die Rentenmark eingeführt. Dafür wurde Mitte Oktober die Deutsche Rentenbank gegründet und zur Deckung des Grundkapitals dieser Bank der gesamte Grundbesitz im Deutschen Reich mit einer Hypothek von 3,2 Milliarden Rentenmark belastet.
Am 15. November wurde dann die Rentenmark als neues Zahlungsmittel herausgegeben. Der Wechselkurs einer Rentenmark war mit einer Billion Papiermark festgelegt worden, ein US-Dollar entsprach 4,20 Rentenmark. In den folgenden Monaten gelang es Politik und Reichsbank, den Kurs der neuen Währung durch Einschränkung der Geldmenge und drastische Sparmaßnahmen im Haushalt zu stabilisieren. Die Rentenmark wurde schließlich am 30. August 1924 durch die Reichsmark abgelöst, die durch Gold und wertbeständige Devisen gedeckt war. * Abkürzung für „Organisation Escherich“. R. Escherich war Leiter der Landeseinwohnerwehr in Bayern.
Eine der ersten Amtshandlungen des Braunschweiger Arbeiter- und Soldatenrates war die Bildung einer „Roten Garde“ zum Schutz der Revolution, sprich zur Durchsetzung der Räteherrschaft – Gesetz vom 13. November 1918. Über die Aufnahme der Freiwilligen (Volkswehr) entschied der örtliche Arbeiter- und Soldatenrat. Diese Einheiten wurden im Rahmen des von der Reichsregierung verhängten Belagerungszustandes über den Freistaat Braunschweig im April 1919 aufgelöst.
In Schöningen erging dann Ende des Monats von der Stadtverwaltung, den politischen Parteien und dem örtlichen Gewerkschaftskartell an alle männlichen Einwohner über 20 Jahre der Aufruf, sich zum Dienst in einer Einwohnerwehr zu melden. In dem Aufruf wurde betont, der Dienst erfolge ohne jeden politischen Charakter oder parteipolitische Interessen. Es gelte Leben und Eigentum der Einwohner gegen Plünderung, Gewalttätigkeit, Felddiebstähle usw. zu schützen.
Die Einwohnerwehren wurden dann durch Gesetz der Landesversammlung vom 29. August 1919 auf eine rechtliche Grundlage gestellt. Die der USPD angehörenden bzw. mit ihr sympathisierenden Männer wurden allerdings im November/Dezember von der Schöninger Parteigliederung aufgefordert, dort auszutreten, da die Einheit die Konterrevolution unterstütze, soll heißen, sich nicht für die Errichtung einer Räterepublik einsetze.
Die Mannschaftsstärke der Schöninger Wehr verringerte sich dadurch von ursprünglich rund 400 auf nur noch 172 Mitglieder, die vermutlich überwiegend dem bürgerlichen Lager angehörten. Die Einwohnerwehren wurden auf Druck vor allem der französischen Regierung überall im Deutschen Reich aufgelöst. Im Land Braunschweig erfolgte dies durch das Gesetz vom 15. September 1920 mit sofortiger Wirkung.
Quelle: überwiegend:
Internetauftritt des Deutschen Historischen Muse-ums, Seiten „Die Inflation von 1914 – 1923“, „Die Währungsreform 1923“
und „Karl Helfferich – 1872 – 1924“
Joachim Bittner