Schießerei auf dem Burgplatz

15.3.1920 Neun Tote und mehr als 20 Verletzte

Zur Erin­ne­rung an die­ses blu­ti­ge Gesche­hen wäh­rend des Kapp – Put­sches Son­der­aus­stel­lung im Hei­mat­mu­se­um. Da das Muse­um zur Zeit nicht geöff­net wer­den kann, wird die Aus­stel­lung hier gezeigt.

Der Ablauf des 15. März 1920 in Schö­nin­gen (Kurz­fas­sung)

Die Ereig­nis­se in Schö­nin­gen sind über­wie­gend dem Bericht „Vor­gän­ge in Schö­nin­gen wäh­rend des Kapp-Put­sches 1920“ von Wolf­gang Rose ent­nom­men, der 1976 für den ehe­mal­ma­li­ge Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten Ewald Ger­rich (SPD), Braun­schweig, ent­stan­den ist. Der voll­stän­di­ge Bericht befin­det sich im Archiv der sozia­len Demo­kra­tie der Fried­rich-Ebert-Stif­tung in Bonn (Bestand-Nr. NL Ewald Ger­rich, Box 51).
Die Toch­ter von Ewald Ger­rich, Frau Inge­borg Metz­ner, hat mit Schrei­ben vom 18.02.2009 an den Hei­mat­ver­ein der Nut­zung des Mate­ri­als zuge­stimmt.
13. März 1920:
Ein­marsch der put­schen­den Trup­pen in Ber­lin. Sie beset­zen das Regie­rungs­vier­tel. Reichs­prä­si­dent Fried­rich Ebert und die ver­fas­sungs­ge­mä­ße Reichs­re­gie­rung unter Reichs­kanz­ler Bau­er wei­chen nach Dres­den und spä­ter nach Stutt­gart aus.
Außer­halb Ber­lins blei­ben die Mel­dun­gen über den Staats­streich zunächst wider­sprüch­lich, zumal am ers­ten Tag des Put­sches, einem Sonn­abend, die Zei­tun­gen noch kei­ne genau­en Mel­dun­gen dar­über ver­brei­te­ten. Es sind daher nur Gerüch­te im Umlauf.
Um die Gemü­ter zu beru­hi­gen, erlässt der Füh­rer der Schö­nin­ger Ein­woh­ner­wehr, Ober­amts­rich­ter Lin­de­mann, am 14. März einen Aufruf:

Quel­le: Schö­nin­ger Anzei­ger und Schö­nin­ger Zei­tung vom 14. März 1920

Die in Schö­nin­gen ver­tre­te­nen Links­par­tei­en (USPD, MSPD, VKP und KAP) bil­den noch am sel­ben Tage einen „Akti­ons-Aus­schuß“.
Im Lau­fe des Vor­mit­tags (15. März) fin­den in den Schö­nin­ger Betrie­ben und in den ein­zel­nen Abtei­lun­gen der Braun­schwei­gi­schen Koh­len-Berg­wer­ke „Volks­ver­samm­lun­gen“ statt, in denen über den Auf­ruf des All­ge­mei­nen Deut­schen Gewerk­schafts­bun­des zum Gene­ral­streik vom 14. März dis­ku­tiert wird. Er wird nahe­zu ein­mü­tig als „geeig­ne­tes poli­ti­sches Kampf­in­stru­ment“ begrüßt. Die Arbeits­nie­der­le­gung erfolgt bei den BKB voll­stän­dig, auch die Betrie­be in Schö­nin­gen schlie­ßen sich an.

Durch ein Flug­blatt wird zu einer Demons­tra­ti­on um 12 Uhr auf dem Markt­platz auf­ge­ru­fen. Der Text ist aller­dings nicht überliefert.

Es fin­det sich eine „viel­hun­dert­köp­fi­ge Men­ge, bestehend aus strei­ken­den Arbei­tern aus Schö­nin­gen und Umge­bung, Mit­läu­fern sowie Neu­gie­ri­gen, vor allem Frau­en und Kin­dern, ein“.
Einer der Red­ner ist der vor­ma­li­ge Prä­si­dent der „Sozia­lis­ti­schen Repu­blik Braun­schweig“, August Mer­ges. Sei­ne Rede gip­felt in der Auf­for­de­rung, die Schö­nin­ger Ein­woh­ner­wehr zu ent­waff­nen, da „die Bour­geoi­siek­ei­ne Waf­fen braucht“.
Nach sei­ner Anspra­che bil­det Mer­ges eine „Arbei­ter-Kom­mis­si­on“, die den Auf­trag hat, die Abga­be der Waf­fen der Ein­woh­ner­wehr von deren Füh­rer, Lin­de­mann, zu for­dern. Lin­de­mann befin­det sich als Mit­glied des Magis­trats im Rat­haus. Er lehnt die For­de­rung ab.
Ein Teil der Demons­tran­ten gibt sich mit die­ser Wei­ge­rung nicht zufrie­den. Ein „Trupp jun­ger Leu­te“ dringt in das Rat­haus ein und treibt Lin­de­mann unter Dro­hun­gen und Miss­hand­lun­gen auf den Rat­haus­vor­platz. Dort wird er von der erreg­ten Men­ge erneut auf­ge­for­dert, die Abga­be der Waf­fen zu befeh­len.
Lin­de­mann wei­gert sich erneut und wird zunächst wie­der frei­ge­las­sen.
Die erreg­te Men­ge auf dem Markt­platz ergreift ihn wenig spä­ter erneut und drängt ihn nun zum Burg­platz, wo sich zum Schutz der dort lagern­den Waf­fen der Ein­woh­ner­wehr ein Teil der Ein­heit im Rit­ter­gut ver­sam­melt hat. Mer­ges und Bür­ger­meis­ter Schelz ver­su­chen ver­geb­lich, die Stim­mung zu beru­hi­gen und die Men­ge vom Marsch zum Burg­platz abzuhalten.

Die bereits oben erwähn­te „Arbei­ter-Kom­mis­si­on“ for­dert nun vom stell­ver­tre­te­nen Füh­rer der Ein­woh­ner­wehr, Forst­meis­ter Fal­ke, die Her­aus­ga­be der Waf­fen, die er ver­wei­gert.
Die Men­ge vor dem Rit­ter­gut soll nach münd­lich über­lie­fer­ten Berich­ten zwi­schen 400 und 900 Per­so­nen betra­gen haben.

Quel­le: Archi­ve Stadt Schö­nin­gen — Haus Rit­ter­gut 1921

Gegen 12.30 Uhr fal­len die ers­ten Schüs­se, es fol­gen dann Gewehr­sal­ven. Als ers­ter wird der Wehr­mann Tank­mar Eis­feld getö­tet, ins­ge­samt fal­len dem Blut­bad neun Men­schen zum Opfer. Es sind mehr als 20 Ver­letz­te zu bekla­gen.
Die Todes­op­fer sind auf einem geson­der­ten Blatt auf­ge­führt.
August Mer­ges, der nicht mit zum Rit­ter­gut gezo­gen war, ver­schwand mit unbe­kann­tem Ziel.
Ein Teil der Arbei­ter ver­schaff­te sich ille­gal Waf­fen von Förs­tern, Jägern und Mit­glie­dern der Ein­woh­ner­wehr und umstell­te nun­mehr das Rit­ter­gut. Die sich dort wei­ter­hin befind­li­chen Mit­glie­der der Wehr wur­den erneut auf­ge­for­dert, die Waf­fen her­aus­zu­ge­ben. Nach län­ge­ren Ver­hand­lun­gen war man dazu unter fol­gen­den Bedin­gun­gen bereit:

  1. Die Waf­fen wer­den sogleich unbrauch­bar gemacht. 
  2. Die Bela­ge­rer zie­hen sich zurück. 
  3. Die per­sön­li­che Frei­heit und Unver­sehrt­heit der Ange­hö­ri­gen der Ein­woh­ner­wehr wird garantiert. 

Die­se For­de­run­gen wur­den von der Men­ge zurück­ge­wie­sen. Es wur­de statt­des­sen beschlos­sen, das Rit­ter­gut um 18 Uhr mit Waf­fen­ge­walt zu stür­men.
Den Ein­ge­schlos­se­nen war es inzwi­schen gelun­gen, die Reichs­wehr in Braun­schweig über die Lage zu infor­mie­ren.
Die Ein­hei­ten erreich­ten kurz vor 18 Uhr den Burg­platz. Es konn­te buch­stäb­lich in letz­ter Minu­te ein wei­te­res Blut­bad ver­hin­dert wer­den.
Der Burg- und der Markt­platz wur­den besetzt, die jewei­li­gen Zufahrts­stra­ßen abge­rie­gelt.
Gegen 20 Uhr konn­te „die Ruhe wie­der her­ge­stellt wer­den“. Es wur­den zahl­rei­che Per­so­nen fest­ge­nom­men und ein Strei­fen­dienst von 4 Mann durch­ge­führt. Auch am nächs­ten Tag wur­den wei­ter­hin wich­ti­ge Punk­te im Stadt­ge­biet besetzt gehal­ten und meh­re­re Per­so­nen u. a. wegen Gefan­ge­nen­be­frei­ung, Rädels­füh­rer­schaft bei den Unru­hen und unbe­fug­ten Waf­fen­be­sit­zes fest­ge­nom­men. Die revo­lu­tio­nä­re Arbei­ter­schaft in Schö­nin­gen, nun unter Füh­rung eines Mit­glieds der VKPD, beharr­te auf der Fort­set­zung des Streiks bis zur Erfül­lung die­ser For­de­run­gen:
1. Abzug des Mili­tärs,
2. Ent­waff­nung der Ein­woh­ner­wehr,
3. Frei­las­sung der „poli­ti­schen Gefangenen“.

Wäh­rend der Putsch am 18. März zusam­men­brach wur­de in Schö­nin­gen wei­ter­hin gestreikt.
Am 25. März fan­den in „Klepp’s Gar­ten“ und im „Schüt­zen­haus“ Ver­samm­lun­gen der Strei­ken­den statt. Dabei wur­de mit Mehr­heit beschlos­sen, den Streik zu been­den, „da die Haupt­for­de­rung, Frei­las­sung der Schutz­häft­lin­ge, erfüllt ist“. Am 26. März wur­de dann in allen Betrie­ben die Arbeit wie­der aufgenommen.

Am 24. März wird ein Bericht der Stadt­po­li­zei­be­hör­de ver­öf­fent­licht, in dem es heißt: „Es ist ein­wand­frei fest­ge­stellt wor­den, dass der ers­te Schuss aus der Men­ge vor dem Dege­ner­schen Rit­ter­gut abge­ge­ben wur­de und zwar von der Haus­trep­pe aus durch das rechts davon befind­li­che Fens­ter und dass hier­auf erst die Ein­woh­ner­wehr das Feu­er eröff­net hat.“
Die­se Dar­stel­lung stimmt mit dem Bericht der Kreis­di­rek­ti­on Helm­stedt vom 21. März an das Staats­mi­nis­te­ri­um in Braun­schweig über­ein. (Nds. Staats­ar­chiv Wol­fen­büt­tel, 12 Neu 9 Nr. 229)
Über die auf­ge­wühl­te Stim­mung der Bevöl­ke­rung in Schö­nin­gen gibt ein Schrei­ben des Gerichts­vor­stands des Amts­ge­richts an das Staats­mi­nis­te­ri­um vom 17. März Aus­kunft. (Nds. Staats­ar­chiv Wol­fen­büt­tel, 12 Neu 9 Nr. 229)

Im Rah­men einer Amnes­tie wur­de die Mehr­zahl der Häft­lin­ge ent­las­sen. (Nds. Staats­ar­chiv Wol­fen­büt­tel, 12 Neu 9 Nr. 229)
Auf ört­li­cher Ebe­ne ent­lud sich die auf­ge­heiz­te Stim­mung in der Sit­zung der Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung am 25. März.
Ober­amts­rich­ter Lin­de­mann trat bereits am 15. März als Mit­glied des Magis­trats zurück, der Wehr­mann Gün­ther (Rechts­an­walt und Notar) leg­te sein Man­dat als Stadt­ver­ord­ne­ter nieder.

In der Sit­zung prall­ten die Mei­nun­gen zum Ver­hal­ten der Ein­woh­ner­wehr unver­söhn­lich auf­ein­an­der. Wäh­rend die Ver­tre­ter der poli­ti­schen Lin­ken der Wehr vor­war­fen, nicht in Not­wehr gehan­delt zu haben, denn es „sei nicht auf Arbei­ter­kämp­fer son­dern blind­lings in die Men­ge geschos­sen wor­den“, wur­de von der bür­ger­li­chen Sei­te vor vor­ei­li­gen Beur­tei­lun­gen gewarnt, da „Arbei­ter­kämp­fer“, „Men­ge“ und „Mas­se“ gar nicht hät­ten unter­schie­den wer­den kön­nen.
Ledig­lich zu einer Schwei­ge­mi­nu­te zu Ehren der Todes­op­fer fan­den sich die Mit­glie­der gemein­sam bereit.
Von den Links­par­tei­en wur­de eine Reso­lu­ti­on ein­ge­bracht, die die sofor­ti­ge Ent­las­sung der hie­si­gen Bür­ger­schul­leh­rer, die als Ange­hö­ri­ge der Ein­woh­ner­wehr an den Vor­fäl­len betei­ligt gewe­sen waren, gefor­dert wur­de.
Bis zur Erfül­lung die­ser For­de­rung soll­ten die Kin­der vom Schul­be­such fern­ge­hal­ten wer­den.
Bür­ger­meis­ter Schelz gab dazu bekannt, dass gegen die betrof­fe­nen Leh­rer Dis­zi­pli­nar­ver­fah­ren ein­ge­lei­tet wor­den sei­en.
Die Lan­des­re­gie­rung ver­füg­te dann Anfang April die Pen­sio­nie­rung des Schul­lei­ters und den Aus­tausch von vier Lehrern.

Wann die Trup­pen aus Schö­nin­gen abzo­gen, ist dem Bericht nicht zu ent­neh­men, ver­mut­lich aber vor dem 26. März, dem Tag, an dem die Arbeit in Schö­nin­gen wie­der auf­ge­nom­men wurde.

HINWEIS:
Bei der Dar­stel­lung der Ereig­nis­se ist zu beden­ken, dass die Schö­nin­ger Zei­tun­gen eben­falls vom Gene­ral­streik betrof­fen waren und erst nach dem Ende der Streik­ak­ti­on wie­der erschei­nen konn­ten. Die Ereig­nis­se der vor­he­ri­gen Tage wur­den dabei ver­mut­lich nur bruch­stück­haft aufgearbeitet.

Die Ein­woh­ner­weh­ren im Frei­staat Braunschweig 

Unter dem Ein­druck der bür­ger­kriegs­ähn­li­chen Unru­hen des Früh­jahrs 1919 wur­den über­all im Deut­schen Reich Ein­woh­ner­weh­ren gebil­det. Die­se Ent­wick­lung rief ins­be­son­de­re die fran­zö­si­sche Regie­rung auf den Plan, die in die­sen Ein­hei­ten die Keim­zel­le eines künf­ti­gen Hee­res auf der Grund­la­ge des Wehr­pflicht­sys­tems ver­mu­te­te.
Nach dem Ein­marsch von Regie­rungs­trup­pen im Rah­men des Bela­ge­rungs­zu­stan­des über den Frei­staat Braun­schweig ab dem 17. April 1919 wur­den die Volks­weh­ren auf­ge­löst, sämt­li­che Waf­fen muss­ten abge­lie­fert wer­den. An die Stel­le der Volks­weh­ren soll­te auf Anord­nung des Gene­rals Mär­ker eine neue Ord­nungs­macht treten.

Dazu erschien in den Schö­nin­ger Zei­tun­gen fol­gen­der Aufruf:

Quel­le: Schö­nin­ger Anzei­ger und Schö­nin­ger Zei­tung vom 27. April 1919 

Im Frei­staat Braun­schweig voll­zog sich dem­nach die Bil­dung der Ein­woh­ner­weh­ren im par­tei- und gesell­schafts­po­li­ti­schen Kon­sens. Anders im benach­bar­ten Preu­ßen. Dort ver­füg­te Innen­mi­nis­ter Wolf­gang Hei­ne (SPD) am 18. März unmiß­ver­ständ­lich, dass die Auf­stel­lung von Ein­woh­ner­weh­ren aus „zuver­läs­si­gen Mit­glie­dern“ der Bevöl­ke­rung zu erfol­gen habe, um den „gro­ßen Gefah­ren“ begeg­nen zu kön­nen, die durch „Ein­schlep­pung und Ver­brei­tung bol­sche­wis­ti­scher und spar­ta­kis­ti­scher Ideen und die damit im engs­ten Zusam­men­hang ste­hen­de Tätig­keit plün­dern­der und rau­ben­der Ban­den ins­be­son­de­re auf dem plat­ten Lan­de und den klei­nen Städ­te erwach­sen“ wür­den.
(Zitiert nach Andre­as Lin­hardt, Die Tech­ni­sche Not­hil­fe in der Wei­ma­rer Repu­blik, Nor­der­stedt 2000, Sei­ten 140–141)

Die Mel­dun­gen in Schö­nin­gen erreich­ten inner­halb weni­ger Tage einen Bestand von etwa 400 Frei­wil­li­gen, die am 25. Mai erst­mals zusam­men­ka­men, um Geweh­re, Sei­ten­ge­weh­re und Muni­ti­on im Emp­fang zu neh­men.
Am 6. Mai zogen die Regie­rungs­trup­pen aus Schö­nin­gen ab. Der Bela­ge­rungs­zu­stand über den Frei­staat wur­de aller­dings erst Anfang Juni auf­ge­ho­ben.
Am 26. August wur­de von der Lan­des­ver­samm­lung das „Gesetz über die Errich­tung von Lan­des­ein­woh­ner­weh­ren“ ver­ab­schie­det. Die bereits im oben zitier­ten Auf­ruf ange­kün­dig­ten Bedin­gun­gen und Richt­li­ni­en fan­den sich im Gesetz wie­der.
Jede poli­ti­sche oder wirt­schaft­li­che Betä­ti­gung wur­de aus­ge­schlos­sen. Die Mit­glie­der soll­ten sich aus allen Krei­sen der Ein­woh­ner­schaft zusam­men­set­zen. Sie hat­ten „sich schrift­lich zu ver­pflich­ten, der vom Vol­ke gewähl­ten Regie­rung ihre treu­en Diens­te zu wid­men und die vom Vol­ke gege­be­nen Geset­ze und die öffent­li­che Ord­nung nöti­gen­falls mit Waf­fen­ge­walt zu verteidigen“.

Die anfäng­li­che über­par­tei­li­che Zustim­mung zur Bil­dung der Ein­woh­ner­wehr hielt in Schö­nin­gen nur weni­ge Mona­te. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen der poli­ti­schen Lager in der Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung nah­men an Schär­fe zu, mög­li­cher­wei­se auch her­vor­ge­ru­fen durch die Wahl des SPD-Kan­di­da­ten Albert Schelz zum Bür­ger­meis­ter, der sich am 28. Sep­tem­ber mit Unter­stüt­zung der bür­ger­li­chen Par­tei­en gegen den USPD-Kan­di­da­ten Sepp Oer­ter mit 2.292 gegen 1.947 Stim­men durch­set­zen konn­te.
Als am 24. Novem­ber die Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung die Wahl eines Aus­schus­ses für die Ein­woh­ner­wehr durch­füh­ren woll­te, wur­de ein ent­spre­chen­der Antrag nach erreg­ter Debat­te abge­lehnt. Die Ver­tre­ter der USPD bezeich­ne­ten die Ein­woh­ner­wehr als unge­setz­lich und als gegen den Frie­dens­ver­trag (von Ver­sailles) ver­sto­ßend. „Wir betrach­ten jeden, der sich an der Ein­wohn­wehr betei­ligt, als Konterrevolutionär“.

In den nächs­ten Wochen tra­ten denn auch vie­le Mit­glie­der und Anhän­ger der USPD aus der Ein­heit aus, so dass deren Stär­ke auf rund 170 Mit­glie­der sank. Damit redu­zier­te sich die Teil­nah­me an der Ein­woh­ner­wehr ver­mut­lich nur noch auf Mit­glie­der aus dem bür­ger­li­chen Spek­trum. Der ursprüng­li­che Ansatz, Bür­ger aus allen Krei­sen zu betei­li­gen, war geschei­tert.
Voll­ends dis­kre­di­tiert hat­ten sich die ver­blie­be­nen Mit­glie­der der Ein­woh­ner­wehr wäh­rend der Ereig­nis­se des 15. März 1920, als bei der Schie­ße­rei acht „Zivi­lis­ten“ und ledig­lich ein Ange­hö­ri­ger der Bür­ger­wehr ums Leben kamen.
Hin­ter den poli­ti­schen Kulis­sen war die Grün­dung und Orga­ni­sa­ti­on der Ein­woh­ner­weh­ren Gegen­stand zahl­rei­cher Bera­tun­gen. Bevor­zug­te man in der Anfangs­pha­se eine zen­tra­lis­ti­sche Lösung, so kam es dann doch recht schnell gera­de unter dem Ein­druck ste­ti­ger fran­zö­si­scher Pro­tes­te zu dezen­tra­len Model­len.
Als dann noch das Gerücht auf­kam, die Gewerk­schaf­ten for­der­ten die Auf­lö­sung der Weh­ren, war dies Anlass für ein Tref­fen des Reichs­kanz­lers Mül­ler (SPD) mit Ver­tre­tern meh­re­rer Lan­des­re­gie­run­gen am 15. April 1920. In dem Pro­to­koll heißt es, es dürf­ten kei­ne mili­tä­ri­schen Übun­gen abge­hal­ten wer­den, der Aus­druck „Wehr“ wer­de zu ver­mei­den sein, es soll­te statt des­sen von Orts- und Flur­schutz gespro­chen wer­den. Sämt­li­che Regie­rungs­ver­tre­ter spra­chen sich für die Bei­be­hal­tung der Ein­woh­ner­weh­ren aus. Sie sei­en unver­zicht­bar für die Auf­recht­erhal­tung der öffent­li­chen Sicher­heit und Ord­nung. Aus bay­ri­scher Sicht wur­de nach­drück­lich dar­auf hin­ge­wie­sen, bei einer Auf­lö­sung der Weh­ren sei die Reichs­ein­heit gefähr­det, da man die Macht­über­nah­me durch links­ra­di­ka­le Kräf­te dann nicht aus­schlie­ßen könne.

(Quel­le: Bun­des­ar­chiv [Inter­net­sei­te], Akten der Reichs­kanz­lei, Wei­ma­rer Repu­blik – Das Kabi­nett Mül­ler I/​ Band I/​ Dokumente/​ Nr. 41, Bespre­chung mit Ver­tre­tern Preu­ßens, Bay­erns, Sach­sens, Würt­tem­bergs, Badens und Hes­sens über die Fra­gen der Ein­woh­ner­weh­ren, 15. April 1920, Sei­ten 95–102)

Das Ende der Ein­woh­ner­weh­ren kam dann im Sep­tem­ber 1920 als zum innen­po­li­ti­schen Druck auch die For­de­rung nach Auf­lö­sung der Weh­ren durch die Entente-Staa­ten hinzukam.

Der Kapp – Lütt­witz — Putsch vom 13. – 17. März 1920

Ver­such des All­deut­schen Wolf­gang Kapp (1858−1922) und des Gene­rals Wal­ter von Lütt­witz (1859−1942) , mit Hil­fe der von Lütt­witz befeh­lig­ten Mari­ne­bri­ga­de Ehr­hardt (1919 gegen die Räte­re­pu­blik in Mün­chen ein­ge­setz­tes Frei­korps) die Regie­rungs­ge­walt in die Hand zu bekom­men. Beset­zung der Regie­rungs­ge­bäu­de in Ber­lin, Flucht der Regie­rung nach Stutt­gart. Der Putsch schei­tert am pas­si­ven Wider­stand der Minis­te­ri­al­bü­ro­kra­tie und am Gene­ral­streik der Gewerkschaften. 

Quel­le: PLOETZ Wei­ma­rer Repu­blik,
her­aus­ge­ge­ben von Ger­hard Schulz,
Sei­ten 180 – 181, Würzburg/​Freiburg 1987 

Erin­ne­run­gen im Zusam­men­hang mit der Schie­ße­rei am 15. März

Münd­li­che Anga­ben gegen­über dem Hei­mat­ver­ein von
Gun­hild Eis­feld und Doris Kleye-Eichen­dorff, Schö­nin­gen, Ohrs­le­ber Weg 1a:
Bei­de gaben an, dass die Frau des stellv. Füh­rers der Schö­nin­ger Ein­woh­ner­wehr, Mar­tha Fal­ke, wäh­rend der Schies­se­rei am 15. März 1920 auf dem Burg­platz von den Spar­ta­kis­ten als leben­der Schutz­schild genutzt wor­den sei. Ihr Mann, Forst­meis­ter Fal­ke, ist ver­mut­lich 1937 oder 1938 in Braun­schweig (?) ver­stor­ben. Sei­ne Frau zog dann nach Ham­burg, wo wohl noch Nach­kom­men leben. Nähe­res ist ihnen aller­dings nicht bekannt.
Ilse Lin­de­mann, Schö­nin­gen, Am Wall­gar­ten 32:
Ihr Vater Her­bert Kün­ne war als Mit­glied der Schö­nin­ger Ein­woh­ner­wehr bei der Schies­se­rei am 15. März 1920 im Rit­ter­gut anwe­send. Eini­ge Mit­glie­der der Ein­woh­ner­wehr, so auch ihr Vater, konn­ten sich der zeit­wei­li­gen Bela­ge­rung des Gebäu­des ent­zie­hen. Sie wur­den von einem Herrn Danz­fuß wohl aus einem ver­steck­ten Aus­gang geholt und fuh­ren anschlie­ßend sofort für eini­ge Zeit in den Harz um mög­li­chen Nach­stel­lun­gen der Spar­ta­kis­ten zu ent­ge­hen.
Anne­lie­se Rün­ger geb. Gro­te, Schö­nin­gen, Rein­bekstr. 4:
„Mei­ne Eltern hat­ten die Bäcke­rei Gro­te auf dem Markt in Schö­nin­gen. Von den Schie­ße­rei­en am Rit­ter­gut erzähl­ten sie mir, dass die Toten bei uns in der Wasch­kü­che zunächst auf­ge­bahrt wur­den.“
Lucie Bau­er, Ber­lin, frü­her Schö­nin­gen:
„Erich Eppert befand sich als Schü­ler aus rei­ner Neu­gier an die­sem Tage auf dem Burg­platz und geriet dabei in die Schies­se­rei, die ihn das Leben kos­te­te. Sei­ne Eltern lie­ßen auf dem Grab­stein die Inschrift „Erschos­sen von der Schö­nin­ger Bür­ger­wehr“ anbrin­gen. Die­ser Text muss­te spä­ter ent­fernt wer­den. Wer die­se Maß­nah­me ver­an­lasst hat, ist mir nicht bekannt. Ich stand mit mei­ner Mut­ter häu­fig vor sei­nem Grab. Die Grab­stel­le ist schon längst ein­ge­eb­net wor­den. Eltern und Kin­der waren sehr befreun­det und es war ein gro­ßer Schock für alle, dass der Jüngs­te von ihnen erschos­sen wurde.“

Schrift­li­che Bele­ge
Aus­zü­ge aus „Franz Eis­feld sen. anläss­lich der Voll­endung sei­nes 70. Lebens­jah­res gewid­met von sei­nen Mit­ge­sell­schaf­tern …… , Schö­nin­gen am 30. Okto­ber 1938 (unver­öf­fent­licht):
„[…..] Das har­mo­ni­sche Zusam­men­wir­ken die­ser Her­ren wur­de jäh unter­bro­chen durch die revo­lu­tio­nä­ren Ereig­nis­se in der Stadt Schö­nin­gen. Ihrer vater­län­di­schen Gesin­nung ent­spre­chend hat­ten sich die Her­ren Franz Eis­feld sen., Ernst Keb­bel und Tank­mar Eis­feld als Glie­der der 1919 – 1920 bestehen­den Ein­woh­ner­wehr am 15. März 1920 im Schö­nin­ger Rit­ter­gut ein­ge­fun­den, um mit ihren dort ver­sam­mel­ten Kame­ra­den ein Waf­fen­de­pot vor den Zugriff der Spar­ta­kis­ten zu sichern. Es kam zum Gefecht mit den Roten. Die ers­ten Schüs­se streif­ten den Gewehr­schaft von Herrn Ernst Keb­bel und tra­fen Herrn Tank­mar Eis­feld töd­lich.
„[ …. ] Anmer­kung: Tank­mar Eis­feld, Sohn von Gus­tav Eis­feld, einem Bru­der von Franz Eis­feld sen., gebo­ren in Lüder, Kreis Uel­zen, begann am 1. April 1912 sei­ne Tätig­keit als Vieh­kauf­mann in der Fir­ma Keb­bel.
Aus: Gün­ther Kah­mann, Land­wirt­schaft­li­ches Kasi­no 1883 – 1983, Schö­nin­gen 1983, Sei­te 19:
„ [ ….. ] In die­sem Zusam­men­hang scheint mir wis­sens­wert, dass weni­ge Tage nach dem Stif­tungs­fest der poli­ti­sche und revo­lu­tio­nä­re Kes­sel in Schö­nin­gen am 15. März 1920 über­koch­te. Die USPD = Unab­hän­gi­ge Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Par­tei Deutsch­lands, Vor­läu­fer­or­ga­ni­sa­ti­on der Kom­mu­nis­ten, woll­te die Schloss­do­mä­ne Schö­nin­gen und die Fami­lie des Päch­ters, Ober­amt­mann Erich Bos­se „aus­räu­chern“. Zum Schutz der Domä­ne hat­te sich aus ehe­ma­li­gen Offi­zie­ren eine Bür­ger­wehr gebil­det, die ihr Quar­tier im Her­ren­haus des Rit­ter­gu­tes auf dem Burg­platz genom­men hat­te. Die wegen des „Kapp-Put­sches“ strei­ken­den Roten hiel­ten den Burg­platz besetzt, hat­ten die Bür­ger­wehr, die Blut­ver­gie­ßen ver­mei­den woll­te, im Rit­ter­gut ein­ge­schlos­sen. Plötz­lich fiel ein Schuss von der Frei­trep­pe durch das Fens­ter in die Die­le des Rit­ter­gu­tes, der unser Mit­glied, den Haupt­mann a. D. Tank­mar Eis­feld töte­te. Der sich hier­nach ent­wi­ckeln­de Schuss­wech­sel töte­te acht von den Demons­tran­ten. Erst das Ein­tref­fen des Über­fall­kom­man­dos aus Braun­schweig been­de­te die Demons­tra­ti­on. [ ….. ]“
Zitat aus: Andre­as Lin­hardt „Die Tech­ni­sche Not­hil­fe in der Wei­ma­rer Repu­blik“, Nor­der­stedt 2006: Sei­ten 168 – 170: Zur Rol­le der TN (Tech­ni­sche Not­hil­fe) wäh­rend des Kapp-Lütz­witz-Put­sches (Mit wei­te­ren Nach­wei­sen): Neben gro­ßen Tei­len des in der Gas­tro­no­mie beschäf­tig­ten Per­so­nals trat nun auch die Beleg­schaft der Braun­schwei­gi­schen Lan­des­ei­sen­bahn in den Aus­stand. (Anmer­kung: Hier ist wohl die Braun­schweig-Schö­nin­ger-Eisen­bahn AG gemeint.) Ein wei­te­res TN-Kom­man­do von 23 Stu­den­ten unter der Füh­rung des Pro­fes­sors für Eisen­bahn­we­sen Curt Risch erhielt dar­auf­hin den Befehl, einen Milch­zug vom Bahn­hof Braun­schweig-Glies­ma­ro­de nach Schö­nin­gen und zurück zu fah­ren. Man kop­pel­te einen kur­zen Güter­zug zusam­men und mach­te sich auf den 45 Kilo­me­ter lan­gen Weg, um auf der Fahrt an meh­re­ren Hal­te­punk­ten lee­re Milch­kan­nen gegen vol­le aus­zu­tau­schen. Das Berg­bau­städt­chen süd­öst­lich der Lan­des­haupt­stadt galt als Hoch­burg der Links­ra­di­ka­len und beson­ders akti­ver Unru­he­herd. Tags zuvor hat­te es dort bei einem spon­ta­nen Ver­such, die Ein­woh­ner­wehr zu ent­waff­nen, einen blu­ti­gen Zwi­schen­fall gege­ben, der acht Todes­op­fer (Anmer­kung: rich­tig: neun Todes­op­fer) for­der­te. Auf eine dem­entspre­chend ange­spann­te Stim­mung tra­fen die Not­hel­fer, wie die Braun­schwei­gi­sche Lan­des­zei­tung in einem mit reich­lich Pole­mik durch­setz­ten Arti­kel zu berich­ten wusste:

Auch die Not­hel­fer sind nur Men­schen und müs­sen essen und trin­ken. Auf dem End­bahn­hof wur­de daher ein län­ge­rer Auf­ent­halt gemacht. Die­ser Bahn­hof gehört zu einem Ort, des­sen Ein­woh­ner beson­ders „klas­sen­be­wußt“ sind und dadurch ihrem Nest zu einem gro­ßen Anse­hen ver­hol­fen haben. Zum Mit­tag­essen ließ sich ein Gang in den Ort nicht ver­mei­den. Die Not­ei­sen­bah­ner fan­den eine freund­li­che Auf­nah­me sei­tens der Bevöl­ke­rung, die auf ihrem Kirch­hof noch Platz zu haben scheint, da sehr höf­lich gefragt wur­de, ob sie hier auch beer­digt wer­den woll­ten! *)
*) Braun­schwei­gi­sche Lan­des­zei­tung vom 22.03.1920

Der Gerichts­vor­stand
Schö­nin­gen, 17. März 1920

An das Staats­mi­nis­te­ri­um Braunschweig

Im Namen der sämt­li­chen Beam­ten des hie­si­gen Amts­ge­richts rich­te ich an das Staats­mi­nis­te­ri­um die drin­gen­de Bit­te, unter allen Umstän­den den mili­tä­ri­schen Schutz bis auf wei­te­res hier zu las­sen.
Die Stim­mung eines Tei­les der hie­si­gen Bevöl­ke­rung und nament­lich der (?) frem­den Arbei­ter in den benach­bar­ten Gru­ben­ka­ser­nen ist in Fol­ge der statt­ge­fun­de­nen blu­ti­gen Ereig­nis­se so erregt dass bei der Zurück­zie­hung des mili­tä­ri­schen Schut­zes wir Beam­ten ernst­lich um unser Leben fürch­ten müs­sen.
Die Beam­ten las­sen daher durch mich dem Staats­mi­nis­te­ri­um erklä­ren, dass sie gezwun­gen sind, in dem Augen­bli­cke, wo der mili­tä­ri­sche Schutz von hier ent­fernt wird, den Dienst ein­zu­stel­len und Schö­nin­gen bis zu Beru­hi­gung der Bevöl­ke­rung zu ver­las­sen.
Lin­de­mann

Bestands­num­mern des Nds. Staats­ar­chivs Wol­fen­büt­tel zu den Ereig­nis­sen des 15. März 1920 in Schöningen

12 Neu 9 Nr. 229  Flug­blatt des Braun­schwei­gi­schen Staats­mi­nis­te­ri­ums zur sofor­ti­gen Been­di­gung des Gene­ral­streiks vom 18. März 1920 
12 Neu 9 Nr. 228 II  Bericht des Hauptausschusses ….. 
12 Neu 9 Nr. 229  Bericht der Kreis­di­rek­ti­on Helm­stedt vom 21. März 1920 
12 Neu 9 Nr. 229  Schrei­ben des Staats­mi­nis­te­ri­ums vom 25. März 1920 an den Hauptausschuss 
12 Neu 9 Nr. 229  Bericht der Braun­schwei­gi­schen Sicher­heits­po­li­zei vom 22. März 1920 
12 Neu 9 Nr. 229  Schrei­ben des Gerichts­vor­stands des Amts­ge­richts Schö­nin­gen –Lin­de­mann- vom 17. März 1920 an das Staats­mi­nis­te­ri­um Braunschweig 

Ille­ga­le Waf­fen­la­ger
In rechts- wie links­ra­di­ka­len Krei­sen wur­den nach den März-Ereig­nis­sen 1920 grö­ße­re Waf­fen- und Muni­ti­ons­vor­rä­te gehor­tet, auch wenn dies infol­ge des zuneh­men­den alli­ier­ten Drucks – zuletzt in Form eines Ulti­ma­tums an das Reich auf der Kon­fe­renz von Spa am 9. Juli 1920 – abso­lut ille­gal war. Zu tief steck­te offen­bar die Angst vor neu­er­li­chen bür­ger­kriegs­ähn­li­chen Aus­ein­an­der­set­zun­gen. So deck­ten in Braun­schweig die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Zei­tun­gen „Volks­freund“ (MSPD) und „Frei­heit“ (USPD) auf, dass sich auch Stu­den­ten der dor­ti­gen Tech­ni­schen Hoch­schu­le als Waf­fen- und Koh­len­schie­ber betä­ti­gen wür­den. Aus den Aus­ga­ben bei­der Blät­ter vom 23. Juli 1920 las­sen sich die Ereig­nis­se wie folgt rekonstruieren: 

Am 10. Juli fuhr eine Grup­pe von Stu­den­ten in Mili­tär­uni­for­men mit einem von der Fir­ma Büs­sing gestell­ten Last­kraft­wa­gen nach Helm­stedt, um auf Befehl der Kom­man­dan­tur Braun­schweig vier Kis­ten mit ins­ge­samt 84 Infan­te­rie­ge­weh­ren abzu­ho­len. Die­se Waf­fen waren dort der Bevöl­ke­rung von der Poli­zei abge­nom­men wor­den und soll­ten der Reichs­wehr aus­ge­hän­digt wer­den. Aller­dings hat die­se Waf­fen­la­dung die Gar­ni­son in der Lan­des­haupt­stadt nie erreicht, son­dern die Stu­den­ten sind damit zu einem Groß­bau­ern in die Ort­schaft Frell­stedt gefah­ren und haben dort drei der Kis­ten abge­la­den. Besag­ter Bau­er – zugleich Füh­rer der dor­ti­gen Ein­woh­ner­wehr – hat die Kis­ten dar­auf­hin in einem nahe­ge­le­ge­nen Wald­stück ver­gra­ben. Die­se Akti­on wur­de aller­dings beob­ach­tet und zur Anzei­ge gebracht, so dass die Poli­zei kurz dar­auf die Geweh­re zum zwei­ten Mal beschlag­nahmt und den Bau­ern ver­haf­tet hat. Zusam­men­fas­send wun­dert sich der „Volks­freund“, woher die Stu­den­ten von den 84 Geweh­ren gewusst hät­ten und wie die Reichs­wehr dazu gekom­men sei, die­se als Zivi­lis­ten in Mili­tär­uni­for­men – ihr Zeit­frei­wil­li­gen-Batail­lon war zu die­sem Zeit­punkt längst auf­ge­löst – und ohne Beglei­tung durch einen Reichs­wehr­an­ge­hö­ri­gen mit dem Trans­port zu beauf­tra­gen. Außer­dem sei merk­wür­dig, dass es hin­ter­her den Staats­an­walt nicht zu inter­es­sie­ren schien, wo die vier­te Kis­te letzt­lich geblie­ben ist. Beson­ders erreg­te man sich dar­über, dass die Reichs­wehr ver­laut­ba­ren ließ, mit der gan­zen Ange­le­gen­heit nichts zu tun zu haben.

Dass der Waf­fen­fund im Wald bei Frell­stedt weit­aus mehr umfass­te als die drei Kis­ten mit Geweh­ren aus Helm­stedt und dass Ange­hö­ri­ge der TH Braun­schweig unmit­tel­bar in die Gescheh­nis­se ver­wi­ckelt waren, geht her­vor aus einem Schrei­ben der Hee­res-Frie­dens­kom­mis­si­on, Ver­bin­dungs­stel­le Han­no­ver, an den „Herrn Poli­zei­prä­si­den­ten des Frei­staa­tes Braun­schweig“, II. Nr. 2278, 17.09.1920. NStA WF, 12 Neu Fb. 13, Nr. 15871. Danach wur­den 125 Geweh­re, 2 Maschi­nen­ge­weh­re, 2 Pis­to­len und grö­ße­re Men­gen Muni­ti­on gefun­den: „Die­se Bestän­de sol­len von einem Ange­hö­ri­gen einer frü­he­ren Ein­woh­ner­wehr stam­men und für die tech­ni­sche Hoch­schu­le in Braun­schweig bestimmt gewe­sen sein.“

Die Straf­ver­fah­ren im Zusam­men­hang mit dem Frell­sted­ter Waf­fen­fund wegen unbe­fug­ten Waf­fen­be­sit­zes bzw. Bei­hil­fe zu die­sem Ver­ge­hen sowie wegen Hoch­ver­rats wur­den übri­gens auf Betrei­ben der Staats­an­walt­schaft am 20. bzw. 30.08.1920 tat­säch­lich ein­ge­stellt. Die Begrün­dun­gen waren gera­de­zu aben­teu­er­lich. Im ers­ten Fal­le hieß es: „Nach Lage der Sache muss ange­nom­men wer­den, dass die Ange­schul­dig­ten die ihnen zur Last geleg­ten Hand­lun­gen zur Abwehr eines etwa­igen hoch­ver­rä­te­ri­schen Unter­neh­mens gegen das Reich und viel­leicht auch zur Vor­be­rei­tung eines hoch­ver­rä­te­ri­schen Unter­neh­mens gegen das Reich […] began­gen haben. In letz­te­rer Hin­sicht kommt eine Tätig­keit als Rädels­füh­rer nicht in Fra­ge. Daher ist für die von ihnen began­ge­nen Straf­ta­ten nach § 1 Abs. 1 und 2 des Geset­zes über die Gewäh­rung von Straf­frei­heit vom 4.8.20 Straf­frei­heit ein­ge­tre­ten (§ 2 Abs. 1 das.).“ In der zwei­ten Begrün­dung wur­de zwar bei „dem gro­ßen Umfan­ge des Waf­fen­la­gers und in Anbe­tracht der Umstän­de“ zwei­fels­frei eben­falls die Vor­be­rei­tung oder aber Abwehr eines repu­blik­feind­li­chen Put­sches als Zweck ange­nom­men, aber selbst im für die Repu­blik ungüns­ti­ge­ren Fall den ver­meint­lich „unbe­kann­ten“ Tätern zugu­te gehal­ten, dass sie als mut­maß­li­che Ange­hö­ri­ge der Tech­ni­schen Hoch­schu­le „schon nach ihrer Per­sön­lich­keit nicht Urhe­ber oder Füh­rer“ eines Putsch­un­ter­neh­mens sein könn­ten. NStA WF, 12 Neu Fb. 13, Nr. 15871. 

Zita­te aus: Andre­as Lin­hardt „Die Tech­ni­sche Not­hil­fe in der Wei­ma­rer Repu­blik“, Nor­der­stedt 2006, mit wei­te­ren Nachweisen 

Joa­chim Bitt­ner; März 2020