15.3.1920 Neun Tote und mehr als 20 Verletzte
Zur Erinnerung an dieses blutige Geschehen während des Kapp – Putsches Sonderausstellung im Heimatmuseum. Da das Museum zur Zeit nicht geöffnet werden kann, wird die Ausstellung hier gezeigt.
Der Ablauf des 15. März 1920 in Schöningen (Kurzfassung)
Die Ereignisse in Schöningen sind überwiegend dem Bericht „Vorgänge in Schöningen während des Kapp-Putsches 1920“ von Wolfgang Rose entnommen, der 1976 für den ehemalmalige Landtagsabgeordneten Ewald Gerrich (SPD), Braunschweig, entstanden ist. Der vollständige Bericht befindet sich im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn (Bestand-Nr. NL Ewald Gerrich, Box 51).
Die Tochter von Ewald Gerrich, Frau Ingeborg Metzner, hat mit Schreiben vom 18.02.2009 an den Heimatverein der Nutzung des Materials zugestimmt.
13. März 1920:
Einmarsch der putschenden Truppen in Berlin. Sie besetzen das Regierungsviertel. Reichspräsident Friedrich Ebert und die verfassungsgemäße Reichsregierung unter Reichskanzler Bauer weichen nach Dresden und später nach Stuttgart aus.
Außerhalb Berlins bleiben die Meldungen über den Staatsstreich zunächst widersprüchlich, zumal am ersten Tag des Putsches, einem Sonnabend, die Zeitungen noch keine genauen Meldungen darüber verbreiteten. Es sind daher nur Gerüchte im Umlauf.
Um die Gemüter zu beruhigen, erlässt der Führer der Schöninger Einwohnerwehr, Oberamtsrichter Lindemann, am 14. März einen Aufruf:
Die in Schöningen vertretenen Linksparteien (USPD, MSPD, VKP und KAP) bilden noch am selben Tage einen „Aktions-Ausschuß“.
Im Laufe des Vormittags (15. März) finden in den Schöninger Betrieben und in den einzelnen Abteilungen der Braunschweigischen Kohlen-Bergwerke „Volksversammlungen“ statt, in denen über den Aufruf des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Generalstreik vom 14. März diskutiert wird. Er wird nahezu einmütig als „geeignetes politisches Kampfinstrument“ begrüßt. Die Arbeitsniederlegung erfolgt bei den BKB vollständig, auch die Betriebe in Schöningen schließen sich an.
Durch ein Flugblatt wird zu einer Demonstration um 12 Uhr auf dem Marktplatz aufgerufen. Der Text ist allerdings nicht überliefert.
Es findet sich eine „vielhundertköpfige Menge, bestehend aus streikenden Arbeitern aus Schöningen und Umgebung, Mitläufern sowie Neugierigen, vor allem Frauen und Kindern, ein“.
Einer der Redner ist der vormalige Präsident der „Sozialistischen Republik Braunschweig“, August Merges. Seine Rede gipfelt in der Aufforderung, die Schöninger Einwohnerwehr zu entwaffnen, da „die Bourgeoisiekeine Waffen braucht“.
Nach seiner Ansprache bildet Merges eine „Arbeiter-Kommission“, die den Auftrag hat, die Abgabe der Waffen der Einwohnerwehr von deren Führer, Lindemann, zu fordern. Lindemann befindet sich als Mitglied des Magistrats im Rathaus. Er lehnt die Forderung ab.
Ein Teil der Demonstranten gibt sich mit dieser Weigerung nicht zufrieden. Ein „Trupp junger Leute“ dringt in das Rathaus ein und treibt Lindemann unter Drohungen und Misshandlungen auf den Rathausvorplatz. Dort wird er von der erregten Menge erneut aufgefordert, die Abgabe der Waffen zu befehlen.
Lindemann weigert sich erneut und wird zunächst wieder freigelassen.
Die erregte Menge auf dem Marktplatz ergreift ihn wenig später erneut und drängt ihn nun zum Burgplatz, wo sich zum Schutz der dort lagernden Waffen der Einwohnerwehr ein Teil der Einheit im Rittergut versammelt hat. Merges und Bürgermeister Schelz versuchen vergeblich, die Stimmung zu beruhigen und die Menge vom Marsch zum Burgplatz abzuhalten.
Die bereits oben erwähnte „Arbeiter-Kommission“ fordert nun vom stellvertretenen Führer der Einwohnerwehr, Forstmeister Falke, die Herausgabe der Waffen, die er verweigert.
Die Menge vor dem Rittergut soll nach mündlich überlieferten Berichten zwischen 400 und 900 Personen betragen haben.
Gegen 12.30 Uhr fallen die ersten Schüsse, es folgen dann Gewehrsalven. Als erster wird der Wehrmann Tankmar Eisfeld getötet, insgesamt fallen dem Blutbad neun Menschen zum Opfer. Es sind mehr als 20 Verletzte zu beklagen.
Die Todesopfer sind auf einem gesonderten Blatt aufgeführt.
August Merges, der nicht mit zum Rittergut gezogen war, verschwand mit unbekanntem Ziel.
Ein Teil der Arbeiter verschaffte sich illegal Waffen von Förstern, Jägern und Mitgliedern der Einwohnerwehr und umstellte nunmehr das Rittergut. Die sich dort weiterhin befindlichen Mitglieder der Wehr wurden erneut aufgefordert, die Waffen herauszugeben. Nach längeren Verhandlungen war man dazu unter folgenden Bedingungen bereit:
- Die Waffen werden sogleich unbrauchbar gemacht.
- Die Belagerer ziehen sich zurück.
- Die persönliche Freiheit und Unversehrtheit der Angehörigen der Einwohnerwehr wird garantiert.
Diese Forderungen wurden von der Menge zurückgewiesen. Es wurde stattdessen beschlossen, das Rittergut um 18 Uhr mit Waffengewalt zu stürmen.
Den Eingeschlossenen war es inzwischen gelungen, die Reichswehr in Braunschweig über die Lage zu informieren.
Die Einheiten erreichten kurz vor 18 Uhr den Burgplatz. Es konnte buchstäblich in letzter Minute ein weiteres Blutbad verhindert werden.
Der Burg- und der Marktplatz wurden besetzt, die jeweiligen Zufahrtsstraßen abgeriegelt.
Gegen 20 Uhr konnte „die Ruhe wieder hergestellt werden“. Es wurden zahlreiche Personen festgenommen und ein Streifendienst von 4 Mann durchgeführt. Auch am nächsten Tag wurden weiterhin wichtige Punkte im Stadtgebiet besetzt gehalten und mehrere Personen u. a. wegen Gefangenenbefreiung, Rädelsführerschaft bei den Unruhen und unbefugten Waffenbesitzes festgenommen. Die revolutionäre Arbeiterschaft in Schöningen, nun unter Führung eines Mitglieds der VKPD, beharrte auf der Fortsetzung des Streiks bis zur Erfüllung dieser Forderungen:
1. Abzug des Militärs,
2. Entwaffnung der Einwohnerwehr,
3. Freilassung der „politischen Gefangenen“.
Während der Putsch am 18. März zusammenbrach wurde in Schöningen weiterhin gestreikt.
Am 25. März fanden in „Klepp’s Garten“ und im „Schützenhaus“ Versammlungen der Streikenden statt. Dabei wurde mit Mehrheit beschlossen, den Streik zu beenden, „da die Hauptforderung, Freilassung der Schutzhäftlinge, erfüllt ist“. Am 26. März wurde dann in allen Betrieben die Arbeit wieder aufgenommen.
Am 24. März wird ein Bericht der Stadtpolizeibehörde veröffentlicht, in dem es heißt: „Es ist einwandfrei festgestellt worden, dass der erste Schuss aus der Menge vor dem Degenerschen Rittergut abgegeben wurde und zwar von der Haustreppe aus durch das rechts davon befindliche Fenster und dass hierauf erst die Einwohnerwehr das Feuer eröffnet hat.“
Diese Darstellung stimmt mit dem Bericht der Kreisdirektion Helmstedt vom 21. März an das Staatsministerium in Braunschweig überein. (Nds. Staatsarchiv Wolfenbüttel, 12 Neu 9 Nr. 229)
Über die aufgewühlte Stimmung der Bevölkerung in Schöningen gibt ein Schreiben des Gerichtsvorstands des Amtsgerichts an das Staatsministerium vom 17. März Auskunft. (Nds. Staatsarchiv Wolfenbüttel, 12 Neu 9 Nr. 229)
Im Rahmen einer Amnestie wurde die Mehrzahl der Häftlinge entlassen. (Nds. Staatsarchiv Wolfenbüttel, 12 Neu 9 Nr. 229)
Auf örtlicher Ebene entlud sich die aufgeheizte Stimmung in der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 25. März.
Oberamtsrichter Lindemann trat bereits am 15. März als Mitglied des Magistrats zurück, der Wehrmann Günther (Rechtsanwalt und Notar) legte sein Mandat als Stadtverordneter nieder.
In der Sitzung prallten die Meinungen zum Verhalten der Einwohnerwehr unversöhnlich aufeinander. Während die Vertreter der politischen Linken der Wehr vorwarfen, nicht in Notwehr gehandelt zu haben, denn es „sei nicht auf Arbeiterkämpfer sondern blindlings in die Menge geschossen worden“, wurde von der bürgerlichen Seite vor voreiligen Beurteilungen gewarnt, da „Arbeiterkämpfer“, „Menge“ und „Masse“ gar nicht hätten unterschieden werden können.
Lediglich zu einer Schweigeminute zu Ehren der Todesopfer fanden sich die Mitglieder gemeinsam bereit.
Von den Linksparteien wurde eine Resolution eingebracht, die die sofortige Entlassung der hiesigen Bürgerschullehrer, die als Angehörige der Einwohnerwehr an den Vorfällen beteiligt gewesen waren, gefordert wurde.
Bis zur Erfüllung dieser Forderung sollten die Kinder vom Schulbesuch ferngehalten werden.
Bürgermeister Schelz gab dazu bekannt, dass gegen die betroffenen Lehrer Disziplinarverfahren eingeleitet worden seien.
Die Landesregierung verfügte dann Anfang April die Pensionierung des Schulleiters und den Austausch von vier Lehrern.
Wann die Truppen aus Schöningen abzogen, ist dem Bericht nicht zu entnehmen, vermutlich aber vor dem 26. März, dem Tag, an dem die Arbeit in Schöningen wieder aufgenommen wurde.
HINWEIS:
Bei der Darstellung der Ereignisse ist zu bedenken, dass die Schöninger Zeitungen ebenfalls vom Generalstreik betroffen waren und erst nach dem Ende der Streikaktion wieder erscheinen konnten. Die Ereignisse der vorherigen Tage wurden dabei vermutlich nur bruchstückhaft aufgearbeitet.
Die Einwohnerwehren im Freistaat Braunschweig
Unter dem Eindruck der bürgerkriegsähnlichen Unruhen des Frühjahrs 1919 wurden überall im Deutschen Reich Einwohnerwehren gebildet. Diese Entwicklung rief insbesondere die französische Regierung auf den Plan, die in diesen Einheiten die Keimzelle eines künftigen Heeres auf der Grundlage des Wehrpflichtsystems vermutete.
Nach dem Einmarsch von Regierungstruppen im Rahmen des Belagerungszustandes über den Freistaat Braunschweig ab dem 17. April 1919 wurden die Volkswehren aufgelöst, sämtliche Waffen mussten abgeliefert werden. An die Stelle der Volkswehren sollte auf Anordnung des Generals Märker eine neue Ordnungsmacht treten.
Dazu erschien in den Schöninger Zeitungen folgender Aufruf:
Im Freistaat Braunschweig vollzog sich demnach die Bildung der Einwohnerwehren im partei- und gesellschaftspolitischen Konsens. Anders im benachbarten Preußen. Dort verfügte Innenminister Wolfgang Heine (SPD) am 18. März unmißverständlich, dass die Aufstellung von Einwohnerwehren aus „zuverlässigen Mitgliedern“ der Bevölkerung zu erfolgen habe, um den „großen Gefahren“ begegnen zu können, die durch „Einschleppung und Verbreitung bolschewistischer und spartakistischer Ideen und die damit im engsten Zusammenhang stehende Tätigkeit plündernder und raubender Banden insbesondere auf dem platten Lande und den kleinen Städte erwachsen“ würden.
(Zitiert nach Andreas Linhardt, Die Technische Nothilfe in der Weimarer Republik, Norderstedt 2000, Seiten 140–141)
Die Meldungen in Schöningen erreichten innerhalb weniger Tage einen Bestand von etwa 400 Freiwilligen, die am 25. Mai erstmals zusammenkamen, um Gewehre, Seitengewehre und Munition im Empfang zu nehmen.
Am 6. Mai zogen die Regierungstruppen aus Schöningen ab. Der Belagerungszustand über den Freistaat wurde allerdings erst Anfang Juni aufgehoben.
Am 26. August wurde von der Landesversammlung das „Gesetz über die Errichtung von Landeseinwohnerwehren“ verabschiedet. Die bereits im oben zitierten Aufruf angekündigten Bedingungen und Richtlinien fanden sich im Gesetz wieder.
Jede politische oder wirtschaftliche Betätigung wurde ausgeschlossen. Die Mitglieder sollten sich aus allen Kreisen der Einwohnerschaft zusammensetzen. Sie hatten „sich schriftlich zu verpflichten, der vom Volke gewählten Regierung ihre treuen Dienste zu widmen und die vom Volke gegebenen Gesetze und die öffentliche Ordnung nötigenfalls mit Waffengewalt zu verteidigen“.
Die anfängliche überparteiliche Zustimmung zur Bildung der Einwohnerwehr hielt in Schöningen nur wenige Monate. Die Auseinandersetzungen der politischen Lager in der Stadtverordnetenversammlung nahmen an Schärfe zu, möglicherweise auch hervorgerufen durch die Wahl des SPD-Kandidaten Albert Schelz zum Bürgermeister, der sich am 28. September mit Unterstützung der bürgerlichen Parteien gegen den USPD-Kandidaten Sepp Oerter mit 2.292 gegen 1.947 Stimmen durchsetzen konnte.
Als am 24. November die Stadtverordnetenversammlung die Wahl eines Ausschusses für die Einwohnerwehr durchführen wollte, wurde ein entsprechender Antrag nach erregter Debatte abgelehnt. Die Vertreter der USPD bezeichneten die Einwohnerwehr als ungesetzlich und als gegen den Friedensvertrag (von Versailles) verstoßend. „Wir betrachten jeden, der sich an der Einwohnwehr beteiligt, als Konterrevolutionär“.
In den nächsten Wochen traten denn auch viele Mitglieder und Anhänger der USPD aus der Einheit aus, so dass deren Stärke auf rund 170 Mitglieder sank. Damit reduzierte sich die Teilnahme an der Einwohnerwehr vermutlich nur noch auf Mitglieder aus dem bürgerlichen Spektrum. Der ursprüngliche Ansatz, Bürger aus allen Kreisen zu beteiligen, war gescheitert.
Vollends diskreditiert hatten sich die verbliebenen Mitglieder der Einwohnerwehr während der Ereignisse des 15. März 1920, als bei der Schießerei acht „Zivilisten“ und lediglich ein Angehöriger der Bürgerwehr ums Leben kamen.
Hinter den politischen Kulissen war die Gründung und Organisation der Einwohnerwehren Gegenstand zahlreicher Beratungen. Bevorzugte man in der Anfangsphase eine zentralistische Lösung, so kam es dann doch recht schnell gerade unter dem Eindruck stetiger französischer Proteste zu dezentralen Modellen.
Als dann noch das Gerücht aufkam, die Gewerkschaften forderten die Auflösung der Wehren, war dies Anlass für ein Treffen des Reichskanzlers Müller (SPD) mit Vertretern mehrerer Landesregierungen am 15. April 1920. In dem Protokoll heißt es, es dürften keine militärischen Übungen abgehalten werden, der Ausdruck „Wehr“ werde zu vermeiden sein, es sollte statt dessen von Orts- und Flurschutz gesprochen werden. Sämtliche Regierungsvertreter sprachen sich für die Beibehaltung der Einwohnerwehren aus. Sie seien unverzichtbar für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Aus bayrischer Sicht wurde nachdrücklich darauf hingewiesen, bei einer Auflösung der Wehren sei die Reichseinheit gefährdet, da man die Machtübernahme durch linksradikale Kräfte dann nicht ausschließen könne.
(Quelle: Bundesarchiv [Internetseite], Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik – Das Kabinett Müller I/ Band I/ Dokumente/ Nr. 41, Besprechung mit Vertretern Preußens, Bayerns, Sachsens, Württembergs, Badens und Hessens über die Fragen der Einwohnerwehren, 15. April 1920, Seiten 95–102)
Das Ende der Einwohnerwehren kam dann im September 1920 als zum innenpolitischen Druck auch die Forderung nach Auflösung der Wehren durch die Entente-Staaten hinzukam.
Der Kapp – Lüttwitz — Putsch vom 13. – 17. März 1920
Versuch des Alldeutschen Wolfgang Kapp (1858−1922) und des Generals Walter von Lüttwitz (1859−1942) , mit Hilfe der von Lüttwitz befehligten Marinebrigade Ehrhardt (1919 gegen die Räterepublik in München eingesetztes Freikorps) die Regierungsgewalt in die Hand zu bekommen. Besetzung der Regierungsgebäude in Berlin, Flucht der Regierung nach Stuttgart. Der Putsch scheitert am passiven Widerstand der Ministerialbürokratie und am Generalstreik der Gewerkschaften.
Quelle: PLOETZ Weimarer Republik,
herausgegeben von Gerhard Schulz,
Seiten 180 – 181, Würzburg/Freiburg 1987
Erinnerungen im Zusammenhang mit der Schießerei am 15. März
Mündliche Angaben gegenüber dem Heimatverein von
Gunhild Eisfeld und Doris Kleye-Eichendorff, Schöningen, Ohrsleber Weg 1a:
Beide gaben an, dass die Frau des stellv. Führers der Schöninger Einwohnerwehr, Martha Falke, während der Schiesserei am 15. März 1920 auf dem Burgplatz von den Spartakisten als lebender Schutzschild genutzt worden sei. Ihr Mann, Forstmeister Falke, ist vermutlich 1937 oder 1938 in Braunschweig (?) verstorben. Seine Frau zog dann nach Hamburg, wo wohl noch Nachkommen leben. Näheres ist ihnen allerdings nicht bekannt.
Ilse Lindemann, Schöningen, Am Wallgarten 32:
Ihr Vater Herbert Künne war als Mitglied der Schöninger Einwohnerwehr bei der Schiesserei am 15. März 1920 im Rittergut anwesend. Einige Mitglieder der Einwohnerwehr, so auch ihr Vater, konnten sich der zeitweiligen Belagerung des Gebäudes entziehen. Sie wurden von einem Herrn Danzfuß wohl aus einem versteckten Ausgang geholt und fuhren anschließend sofort für einige Zeit in den Harz um möglichen Nachstellungen der Spartakisten zu entgehen.
Anneliese Rünger geb. Grote, Schöningen, Reinbekstr. 4:
„Meine Eltern hatten die Bäckerei Grote auf dem Markt in Schöningen. Von den Schießereien am Rittergut erzählten sie mir, dass die Toten bei uns in der Waschküche zunächst aufgebahrt wurden.“
Lucie Bauer, Berlin, früher Schöningen:
„Erich Eppert befand sich als Schüler aus reiner Neugier an diesem Tage auf dem Burgplatz und geriet dabei in die Schiesserei, die ihn das Leben kostete. Seine Eltern ließen auf dem Grabstein die Inschrift „Erschossen von der Schöninger Bürgerwehr“ anbringen. Dieser Text musste später entfernt werden. Wer diese Maßnahme veranlasst hat, ist mir nicht bekannt. Ich stand mit meiner Mutter häufig vor seinem Grab. Die Grabstelle ist schon längst eingeebnet worden. Eltern und Kinder waren sehr befreundet und es war ein großer Schock für alle, dass der Jüngste von ihnen erschossen wurde.“
Schriftliche Belege
Auszüge aus „Franz Eisfeld sen. anlässlich der Vollendung seines 70. Lebensjahres gewidmet von seinen Mitgesellschaftern …… , Schöningen am 30. Oktober 1938 (unveröffentlicht):
„[…..] Das harmonische Zusammenwirken dieser Herren wurde jäh unterbrochen durch die revolutionären Ereignisse in der Stadt Schöningen. Ihrer vaterländischen Gesinnung entsprechend hatten sich die Herren Franz Eisfeld sen., Ernst Kebbel und Tankmar Eisfeld als Glieder der 1919 – 1920 bestehenden Einwohnerwehr am 15. März 1920 im Schöninger Rittergut eingefunden, um mit ihren dort versammelten Kameraden ein Waffendepot vor den Zugriff der Spartakisten zu sichern. Es kam zum Gefecht mit den Roten. Die ersten Schüsse streiften den Gewehrschaft von Herrn Ernst Kebbel und trafen Herrn Tankmar Eisfeld tödlich.
„[ …. ] Anmerkung: Tankmar Eisfeld, Sohn von Gustav Eisfeld, einem Bruder von Franz Eisfeld sen., geboren in Lüder, Kreis Uelzen, begann am 1. April 1912 seine Tätigkeit als Viehkaufmann in der Firma Kebbel.
Aus: Günther Kahmann, Landwirtschaftliches Kasino 1883 – 1983, Schöningen 1983, Seite 19:
„ [ ….. ] In diesem Zusammenhang scheint mir wissenswert, dass wenige Tage nach dem Stiftungsfest der politische und revolutionäre Kessel in Schöningen am 15. März 1920 überkochte. Die USPD = Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Vorläuferorganisation der Kommunisten, wollte die Schlossdomäne Schöningen und die Familie des Pächters, Oberamtmann Erich Bosse „ausräuchern“. Zum Schutz der Domäne hatte sich aus ehemaligen Offizieren eine Bürgerwehr gebildet, die ihr Quartier im Herrenhaus des Rittergutes auf dem Burgplatz genommen hatte. Die wegen des „Kapp-Putsches“ streikenden Roten hielten den Burgplatz besetzt, hatten die Bürgerwehr, die Blutvergießen vermeiden wollte, im Rittergut eingeschlossen. Plötzlich fiel ein Schuss von der Freitreppe durch das Fenster in die Diele des Rittergutes, der unser Mitglied, den Hauptmann a. D. Tankmar Eisfeld tötete. Der sich hiernach entwickelnde Schusswechsel tötete acht von den Demonstranten. Erst das Eintreffen des Überfallkommandos aus Braunschweig beendete die Demonstration. [ ….. ]“
Zitat aus: Andreas Linhardt „Die Technische Nothilfe in der Weimarer Republik“, Norderstedt 2006: Seiten 168 – 170: Zur Rolle der TN (Technische Nothilfe) während des Kapp-Lützwitz-Putsches (Mit weiteren Nachweisen): Neben großen Teilen des in der Gastronomie beschäftigten Personals trat nun auch die Belegschaft der Braunschweigischen Landeseisenbahn in den Ausstand. (Anmerkung: Hier ist wohl die Braunschweig-Schöninger-Eisenbahn AG gemeint.) Ein weiteres TN-Kommando von 23 Studenten unter der Führung des Professors für Eisenbahnwesen Curt Risch erhielt daraufhin den Befehl, einen Milchzug vom Bahnhof Braunschweig-Gliesmarode nach Schöningen und zurück zu fahren. Man koppelte einen kurzen Güterzug zusammen und machte sich auf den 45 Kilometer langen Weg, um auf der Fahrt an mehreren Haltepunkten leere Milchkannen gegen volle auszutauschen. Das Bergbaustädtchen südöstlich der Landeshauptstadt galt als Hochburg der Linksradikalen und besonders aktiver Unruheherd. Tags zuvor hatte es dort bei einem spontanen Versuch, die Einwohnerwehr zu entwaffnen, einen blutigen Zwischenfall gegeben, der acht Todesopfer (Anmerkung: richtig: neun Todesopfer) forderte. Auf eine dementsprechend angespannte Stimmung trafen die Nothelfer, wie die Braunschweigische Landeszeitung in einem mit reichlich Polemik durchsetzten Artikel zu berichten wusste:
Auch die Nothelfer sind nur Menschen und müssen essen und trinken. Auf dem Endbahnhof wurde daher ein längerer Aufenthalt gemacht. Dieser Bahnhof gehört zu einem Ort, dessen Einwohner besonders „klassenbewußt“ sind und dadurch ihrem Nest zu einem großen Ansehen verholfen haben. Zum Mittagessen ließ sich ein Gang in den Ort nicht vermeiden. Die Noteisenbahner fanden eine freundliche Aufnahme seitens der Bevölkerung, die auf ihrem Kirchhof noch Platz zu haben scheint, da sehr höflich gefragt wurde, ob sie hier auch beerdigt werden wollten! *)
*) Braunschweigische Landeszeitung vom 22.03.1920
Der Gerichtsvorstand
Schöningen, 17. März 1920
An das Staatsministerium Braunschweig
Im Namen der sämtlichen Beamten des hiesigen Amtsgerichts richte ich an das Staatsministerium die dringende Bitte, unter allen Umständen den militärischen Schutz bis auf weiteres hier zu lassen.
Die Stimmung eines Teiles der hiesigen Bevölkerung und namentlich der (?) fremden Arbeiter in den benachbarten Grubenkasernen ist in Folge der stattgefundenen blutigen Ereignisse so erregt dass bei der Zurückziehung des militärischen Schutzes wir Beamten ernstlich um unser Leben fürchten müssen.
Die Beamten lassen daher durch mich dem Staatsministerium erklären, dass sie gezwungen sind, in dem Augenblicke, wo der militärische Schutz von hier entfernt wird, den Dienst einzustellen und Schöningen bis zu Beruhigung der Bevölkerung zu verlassen.
Lindemann
Bestandsnummern des Nds. Staatsarchivs Wolfenbüttel zu den Ereignissen des 15. März 1920 in Schöningen
12 Neu 9 Nr. 229 | Flugblatt des Braunschweigischen Staatsministeriums zur sofortigen Beendigung des Generalstreiks vom 18. März 1920 |
12 Neu 9 Nr. 228 II | Bericht des Hauptausschusses ….. |
12 Neu 9 Nr. 229 | Bericht der Kreisdirektion Helmstedt vom 21. März 1920 |
12 Neu 9 Nr. 229 | Schreiben des Staatsministeriums vom 25. März 1920 an den Hauptausschuss |
12 Neu 9 Nr. 229 | Bericht der Braunschweigischen Sicherheitspolizei vom 22. März 1920 |
12 Neu 9 Nr. 229 | Schreiben des Gerichtsvorstands des Amtsgerichts Schöningen –Lindemann- vom 17. März 1920 an das Staatsministerium Braunschweig |
Illegale Waffenlager
In rechts- wie linksradikalen Kreisen wurden nach den März-Ereignissen 1920 größere Waffen- und Munitionsvorräte gehortet, auch wenn dies infolge des zunehmenden alliierten Drucks – zuletzt in Form eines Ultimatums an das Reich auf der Konferenz von Spa am 9. Juli 1920 – absolut illegal war. Zu tief steckte offenbar die Angst vor neuerlichen bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. So deckten in Braunschweig die sozialdemokratischen Zeitungen „Volksfreund“ (MSPD) und „Freiheit“ (USPD) auf, dass sich auch Studenten der dortigen Technischen Hochschule als Waffen- und Kohlenschieber betätigen würden. Aus den Ausgaben beider Blätter vom 23. Juli 1920 lassen sich die Ereignisse wie folgt rekonstruieren:
Am 10. Juli fuhr eine Gruppe von Studenten in Militäruniformen mit einem von der Firma Büssing gestellten Lastkraftwagen nach Helmstedt, um auf Befehl der Kommandantur Braunschweig vier Kisten mit insgesamt 84 Infanteriegewehren abzuholen. Diese Waffen waren dort der Bevölkerung von der Polizei abgenommen worden und sollten der Reichswehr ausgehändigt werden. Allerdings hat diese Waffenladung die Garnison in der Landeshauptstadt nie erreicht, sondern die Studenten sind damit zu einem Großbauern in die Ortschaft Frellstedt gefahren und haben dort drei der Kisten abgeladen. Besagter Bauer – zugleich Führer der dortigen Einwohnerwehr – hat die Kisten daraufhin in einem nahegelegenen Waldstück vergraben. Diese Aktion wurde allerdings beobachtet und zur Anzeige gebracht, so dass die Polizei kurz darauf die Gewehre zum zweiten Mal beschlagnahmt und den Bauern verhaftet hat. Zusammenfassend wundert sich der „Volksfreund“, woher die Studenten von den 84 Gewehren gewusst hätten und wie die Reichswehr dazu gekommen sei, diese als Zivilisten in Militäruniformen – ihr Zeitfreiwilligen-Bataillon war zu diesem Zeitpunkt längst aufgelöst – und ohne Begleitung durch einen Reichswehrangehörigen mit dem Transport zu beauftragen. Außerdem sei merkwürdig, dass es hinterher den Staatsanwalt nicht zu interessieren schien, wo die vierte Kiste letztlich geblieben ist. Besonders erregte man sich darüber, dass die Reichswehr verlautbaren ließ, mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun zu haben.
Dass der Waffenfund im Wald bei Frellstedt weitaus mehr umfasste als die drei Kisten mit Gewehren aus Helmstedt und dass Angehörige der TH Braunschweig unmittelbar in die Geschehnisse verwickelt waren, geht hervor aus einem Schreiben der Heeres-Friedenskommission, Verbindungsstelle Hannover, an den „Herrn Polizeipräsidenten des Freistaates Braunschweig“, II. Nr. 2278, 17.09.1920. NStA WF, 12 Neu Fb. 13, Nr. 15871. Danach wurden 125 Gewehre, 2 Maschinengewehre, 2 Pistolen und größere Mengen Munition gefunden: „Diese Bestände sollen von einem Angehörigen einer früheren Einwohnerwehr stammen und für die technische Hochschule in Braunschweig bestimmt gewesen sein.“
Die Strafverfahren im Zusammenhang mit dem Frellstedter Waffenfund wegen unbefugten Waffenbesitzes bzw. Beihilfe zu diesem Vergehen sowie wegen Hochverrats wurden übrigens auf Betreiben der Staatsanwaltschaft am 20. bzw. 30.08.1920 tatsächlich eingestellt. Die Begründungen waren geradezu abenteuerlich. Im ersten Falle hieß es: „Nach Lage der Sache muss angenommen werden, dass die Angeschuldigten die ihnen zur Last gelegten Handlungen zur Abwehr eines etwaigen hochverräterischen Unternehmens gegen das Reich und vielleicht auch zur Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gegen das Reich […] begangen haben. In letzterer Hinsicht kommt eine Tätigkeit als Rädelsführer nicht in Frage. Daher ist für die von ihnen begangenen Straftaten nach § 1 Abs. 1 und 2 des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit vom 4.8.20 Straffreiheit eingetreten (§ 2 Abs. 1 das.).“ In der zweiten Begründung wurde zwar bei „dem großen Umfange des Waffenlagers und in Anbetracht der Umstände“ zweifelsfrei ebenfalls die Vorbereitung oder aber Abwehr eines republikfeindlichen Putsches als Zweck angenommen, aber selbst im für die Republik ungünstigeren Fall den vermeintlich „unbekannten“ Tätern zugute gehalten, dass sie als mutmaßliche Angehörige der Technischen Hochschule „schon nach ihrer Persönlichkeit nicht Urheber oder Führer“ eines Putschunternehmens sein könnten. NStA WF, 12 Neu Fb. 13, Nr. 15871.
Zitate aus: Andreas Linhardt „Die Technische Nothilfe in der Weimarer Republik“, Norderstedt 2006, mit weiteren Nachweisen
Joachim Bittner; März 2020