Die Glocken der St. Vincenzkirche zu Schöningen
Glockenguss der größten Glocke von St. Vincenz vor 300 Jahren
Von weither sichtbar überragt das mächtige steinerne Westwerk der St. Vincenzkirche die Altstadt von Schöningen. Der Turm ist nicht nur sichtbares, sondern mit den in ihm befindlichen drei Glocken auch akustisches und identitätsstiftendes Zeichen einer lebendigen Gemeinde. Im Jahr 2016 jährt sich das Glockengussjubiläum der größten Glocke von St. Vincenz zum dreihundertsten Male. Ein Grund sich mit dem historisch bedeutenden Geläut der St. Vincenzkirche näher auseinanderzusetzen.
Dieser Text entstand daher ursprünglich als Vortrag für eine besondere Marktandacht der Gemeinde in der am 21. September 2016 das Glockenjubiläum feierlich begangen wurde. Das dreistimmige Geläut der St. Vincenzkirche stammt aus dem 18. Jahrhundert, bildet jedoch aufgrund seiner ungewöhnlichen Disposition und der Tatsache, das alle drei Glocken von unterschiedlichen Gießern stammen ein Geläut mit hohem Wiedererkennungswert vor allem in musikalischer Hinsicht.
Im Jahre 1716 erhielt der Braunschweiger Glockengießer Christian Ludwig Meyer den Auftrag zum Guss der größten Glockedes St. Vincenzgeläutes. Es war allerdings kein Neuguss im klassischen Sinn, sondern vielmehr ein Umguss einer bereits vorhandenen Glocke. Umguss bedeutete zu damaliger Zeit, dass die Vorgängerglocke irreparabel beschädigt war. In der Regel waren Glocken gesprungen und hatten damit ihren Klang verloren. Davon muss man in diesem Fall auch ausgehen. In dieser Zeit war es technisch nicht möglich, gesprungene Glocken zu reparieren, so dass der Gemeinde nichts anderes übrig blieb, als die schadhafte Glocke einzuschmelzen, um aus ihr eine neue gießen zu lassen.
In der Geschichte des Geläutes war es bereits der fünfte Umguss dieser Glocke, da die Inschrift auf der Glocke dies bis heute mit den lateinischen Worten „SANC CAMPANE QUINTUM RESTAURATA” überliefert. Für den Umguss kam nur der Glockengießer Christian Ludwig Meyer in Frage, wollte sich die Gemeinde nicht strafbar machen.
Dieser Christian Ludwig Meyer entsprang einer Stück- und Glockengießerdynastie aus Wolfenbüttel und Braunschweig. Dies war durchaus üblich, denn Stück- und Glockengießer waren je nach politischer Lage mal das eine und mal das andere. In Friedenszeiten gossen sie Glocken, brach allerdings ein Krieg aus, so mussten sie oft genug ihre eigenen Glocken zu Geschützen und Kanonen als Stückgießer umgießen. Das führte natürlich dazu, dass dieser Kreislauf sie nie arbeitslos machte.
Warum musste die Gemeinde nun aber diesen Christian Ludwig Meyer für den Glockenguss heranziehen, wenn sie sich nicht strafbar machen wollte? Dazu muss man die Glockengießerdynastie Meyeretwas näher betrachten. Sowohl Christian Ludwig Meyers Großvater Heise Meyer, als auch sein Vater Heiso Meyer waren bereits in Wolfenbüttel und Braunschweig als Glockengießer tätig. Der Vater von Christian Ludwig Meyer, Heiso Meyer war von Herzog August dem Jüngeren im Jahr 1658 zum fürstlichen Stückgießer und privilegierten Glockengießer ernannt worden. Sein Privileg bestand darin, „Glocken allhier im Lande allein zu gießen“.1 Er erhielt damit ein Monopol auf den Stück- und Glockenguss, woran sich auch die Kirchen zu halten hatten.
Natürlich konnte Heiso Meyer dieses Monopol nie zu seiner Zufriedenheit gänzlich durchsetzen. So kam es auch, dass vor allem die braunschweigische Rot- und Glockengießergilde sich gegen Heiso Meyer lehnte. Die Gilde wandte sich mit einem so genannten „Treibzettel“ an den Rat der Stadt, in dem es heißt: „Wir Meister und Gesellen lassen Heiso Meyer in Wolfenbüttel treiben, denn er ehrlichen Meistern das Brot vor dem Munde wegstiehlt und nimmt ihnen die Arbeit weg, die sie redlicher Weise verdungen haben und fordert unredliche Gesellen neben redlichen, welches sich nicht gebührt.“2 Anfang des 18. Jahrhunderts muss Heiso Meyer von Wolfenbüttel nach Braunschweig umgezogen sein, denn seine Glocken aus dem Jahre 1702 geben die Stadt als Gussort an. Am 11. Februar 1704 verstarb er in Braunschweig. Heiso Meyer hatte sieben Töchter und sechs Söhne, wovon mehrere Söhne den Beruf des Vaters ergriffen. Der älteste Sohn, Christi-23 an Ludwig Meyer geboren 1659 oder 1660, ließ sich als Stück- und Glockengießer in Braunschweig nieder, nachdem die Stadt 1671 in den Besitz des Herzogs gekommen war.3
Christian Ludwig Meyer goss zu seinen Lebzeiten eine beachtliche Anzahl an Glocken – allein in einem Zeitraum von 19 Jahren sind 51 Glockengüsse nachweisbar, was sicherlich auch an dem fürstlichen Privileg für den Glockenguss lag sowie daran, dass der Herzog den Kirchengemeinden befohlen hatte, nur bei Christian Ludwig Meyer Glocken gießen zu lassen.4 So ordnete Herzog Anton Ulrich am 17. Mai 1704 an, dass er das dem vormals „Unsern Stückgießer und lieben getreuen Heiso Meyer verliehene Privilegium, kraft dessen er die Freiheit gehabt, die Glocken allhier im Lande allein zu gießen, nach dessen Absterben auf seinen Sohn Unseren jetzigen Stückgießer Christian Ludwig Meyer gnädigst ertendiret habe.“5 Da jedoch schon zu Lebzeiten das Privileg nicht geachtet wurde, „so befehlen Wir allen unseren Beamten, desgleichen den Geistlichen und Kirchenvorstehern und allen denen, die Glocken künftig gießen lassen, daß sie bei Strafe nur unsern Stückgießer allein heranziehen sollen.“6
Natürlich hielten sich auch bei Christian Ludwig Meyer die Kirchengemeinden nicht an diese herzogliche Verordnung, sondern ließen ihre Glocken bei anderen Gießern fertigen. In der St. Vincenzgemeinde leistete man aber der Anordnung des Herzogs Folge und beauftragte den herzoglichen Stück- und Glockengießer Christian Ludwig Meyer mit dem Umguss der großen Glocke. Christian Ludwig Meyer war ein sehr geschäftstüchtiger Gießer, das Monopol half ihm natürlich dabei. Er war aber auch bestrebt dieses Monopol zu behalten und vor allem auch durchzusetzen, denn es gab durchaus konkurrierende Glockengießer auch in Braunschweig.
Kaum hatte er das Privilegium erhalten, so beklagte er sich bereits am 5.Oktober 1705 bei der Fürstlichen Regierung über den Braunschweiger Gießer Arendt Greten, der von der Gemeinde in Dettum einen Auftrag zum Glockenguss erhielt. Er forderte, dass Greten den Auftrag sofort abgeben solle.7 Nicht nur im Bereich des Herzogtums, auch darüber hinaus lieferte Christian Ludwig Meyer zahlreiche Glocken aus, so etwa in die gesamte Harzregion bis hin nach Thüringen. Für die St. Marienkirche im thüringischen Mühlhausen goss er bereits im Jahre 1701 eine seiner größten Glocken mit einem Durchmesser von 1,69 Meter und einem Gewicht von etwa 3 Tonnen bei dem Schlagton b°.8 Die Glocke ist heute noch erhalten. Sein größtes Werk ist hingegen im Zweiten Weltkrieg zu Rüstungszwecken vernichtet worden. Es war die 1708 gegossene Festglocke für die Marktkirche St. Benedicti in Quedlinburg. Die Glocke besaß einen Durchmesser von 2,26 Meter und dürfte etwa um die 5 Tonnen gewogen haben.9 Sie war damit eine der größten Glocken Mitteldeutschlands.
Aber auch die große Glocke von St. Vincenz muss sich nicht verstecken, zählte sie doch ebenso zu den größten von Christian Ludwig Meyer gegossenen Glocken. Bei einem Durchmesser von 1,56 wiegt sie immerhin über 2 Tonnen. Christian Ludwig Meyer verstarb im Jahre 1723 oder 1724 im Alter von 64 Jahren. Mit ihm schloss schließlich die Tätigkeit der Familie Meyer als Glockengießer im Land Braunschweig ab.
Der Schlagton der größten Glockedes St. Vincenzgeläutes liegt bei h° ‑6 sechzehntel Halbtönen. Damit ist die Glocke für diesen tiefen Ton vom Gewicht her recht leicht. Für die Barockzeit ist dies durchaus eine typische Vertreterin einer Glocke, da man in dieser Zeit Glocken in eher leichter Rippe – gemeint ist damit die Wandungsstärke – gegossen hat. Typisch für Glocken von Christian Ludwig Meyer ist eine verhaltene Zier, die man auch an dieser Glocke wiederfindet. Mittels Stegen – also umlaufenden Linien – ist die Glocke in ihre einzelnen Abschnitte gegliedert, wie etwa dem Schlagring, dem darüber liegenden Wolm, der Flanke und der Schulter. Typisch für Meyer-Glocken ist der Zierfries mit Akanthusblättern an der Schulter.
Die 1790 von Johann Heinrich Wicke gegossene Glocke für die St. Vincenzkirche besitzt bei einem Durchmesser von 1,14 m ein Gewicht von 849 kg und erklingt mit dem Schlagton f1 ±0 sechzehntel Halbton. Sie ist damit die mittlere Glocke im Geläut. Zwei Reliefs befinden sich auf der Glocke. Sie sind identisch mit den Reliefs auf der großen Glocke und zeigen zum einen den Heiligen Vincenz und zum anderen das Schöninger Stadtwappen. An der Schulter der Glocke findet sich ein Arkanthus-Palmettenfries, welches Wicke durchweg bis zum Jahre 1817 an seinen Glocken anbrachte und danach erst variierte durch andere Friese wie Lorbeerzweige, Rosen, Eichen- oder Weinblätter mit Trauben. Die beiden Inschriftenteile, die sich auf zwei Flankenseiten der Glocke verteilen, sind wie bei der großen Glocke in einen weltlichen und einen geistlichen Teil unterteilt. Insgesamt muss allerdings festgestellt werden, dass sich die Auftraggeber keine große Mühe machten bei der Auswahl der Texte, denn sie enthalten lediglich Abfolgen von Namen. Eine liturgische Inschrift ist überhaupt nicht vorhanden. Der geistliche Teil der Inschrift nennt die Namen der Funktionsträger von St. Vincenz, wie etwa den Pastor, den Diakon, den Kantor, den Organisten und die Kirchenvorsteher. Der andere Teil der Inschrift nennt die Namen des weltlichen Gegenübers, den Bürgermeister, Kämmerer und die Ratsvertreter. Darunter findet sich im Schlagringbereich der Name des Glockengießers sowie das Gussjahr vermerkt.
Instandhaltung der Glocken
Glocken benötigen selbstverständlich auch Pflege, denn sie selbst und die zugehörigen Armaturen unterliegen natürlich auch dem Verschleiß. Und so berichten die Quellen ausführlich über die jeweiligen Reparaturen und Instandhaltungsarbeiten zu den Glocken. Als Beispiele können Auszüge aus den Quellen des 19. Jahrhunderts dienen, die verdeutlichen, welche Mühen es machte, ohne größere technische Hilfsmittel die Glocken instand zu halten.15 So wird berichtet, dass sich im Oktober 1820 die beiden großen Glocken von ihrem Joch – also ihrer Aufhängung – gelockert und die Verbindung zur Welle sich gelöst habe. Zudem wird angezeigt, dass sich der gesamte Glockenstuhl gesenkt habe. Dies bedeutete natürlich ein großes Schadensbild, was auch mit erheblichem Aufwand repariert werden musste. So berichten die Quellen, dass für diese Reparatur 13 starke Männer und drei große Hebezüge eingesetzt wurden. Die extra angefertigten Winden, Hebel, Strebebänder und Klammern wurden nach Abschluss dieser schwierigen Reparatur zur weiteren späteren Verwendung unter dem Dach des Leichenhauses eingelagert. Im März 1822 brach der Klöppel der großen Glocke ab. Man versuchte den abgebrochenen Klöppel zu schweißen, was aber gerade einmal ein Jahr lang hielt, denn im Juli des darauf folgenden Jahres brach der Klöppel erneut an seiner Schadstelle. Dieses Mal wurde schließlich das Geld für einen neuen Klöppel bewilligt und ein solcher neu geschmiedet. Ein weiterer Quellenauszug aus dem Jahre 1833 besagt, dass die Aufhängung der Glocken wiederum erneuert werden musste. Dafür wurde die große Glocke am 17. Mai aus der Pfanne gehoben – das eingelagerte Hebezeug dafür hatte man vom Dach des Leichenhauses geholt. Einen Tag später wurde auch die mittlere Glocke aus dem Glockenstuhl gehoben, wobei festgestellt wurde, dass die Achszapfen des Joches schon bis über die Hälfte abgeschliffen waren und somit unbedingt erneuert werden mussten, wollte man nicht einen Glockenabsturz riskieren. Im Zuge dieser Arbeiten wird auch berichtet, dass der Glockenstuhl nachverkeilt wurde.
All diese Bemühungen müssen natürlich auch unter dem besonderen Aspekt betrachtet werden, dass dieses Geläut die Unbilden der Vergangenheit bis heute glücklicherweise überlebt hat, denn viele Glocken dieses Alters haben dies nicht. Kriege haben immer wieder zahlreiche große Vernichtungsaktionen auch von Glocken hervorgerufen. Die beiden großen Weltkriege waren die traurigen Höhepunkte, zog man die Glocken doch zu tausenden zur Rüstungsproduktion ein und vernichtete sie. So geschah es auch mit den Glocken von St. Vincenz. Im Ersten Weltkrieg konnten die Glocken der Vernichtungsaktion noch entkommen, wie der statistische Fragebogen aus dem Landeskirchenamt belegt.16
Kriegsjahre
Am 15. März 1940 erließen die Nationalsozialisten durch den damaligen Reichsmarschall Hermann Göring die Anordnung an alle Kirchengemeinden des Reiches, ihre Glocken abzuliefern. Schon am 25. Mai 1940 wurde eine Verschiebung der Abgabe angeordnet mit der Begründung, dass man die Glocken noch für das Siegesläuten benötige.
Der wahre Grund war jedoch, dass sich bei der Bevölkerung Unmut über dieses Vorgehen breit machte. Man betrachtete die Aktion als kirchenfeindliche Maßnahme, die es natürlich auch war. Zu den ständigen Siegesmeldungen und Versicherungen, dass die Reserven unerschöpflich seien, stand die Ablieferung der Glocken in strengem Widerspruch. Diese Ansicht festigte sich zudem, als bekannt wurde, dass die Maßnahmen möglichst unauffällig durchzuführen seien. Sämtliche Glocken des Reiches wurden in dieser Aktion akribisch erfasst und in vier Kategorien (A bis D) klassifiziert, je nach musikalischer und historischer Wertigkeit. Die Glocken sollten daraufhin ausgebaut und verhüttet werden. Den meisten Gemeinden fiel es selbstverständlich schwer, sich von ihren Glocken zu trennen. Um dies auch nach Außen hin zu dokumentieren, regte der Geistliche Vertrauensrat der Evangelischen Kirche durch Aufruf zu Glockenopferfeiern an.
Das Reichskirchenministerium reagierte prompt darauf und verfügte an die evangelischen und katholischen Kirchenbehörden das besondere Glockenabnahmefeiern zu unterlassen seien.17 Natürlich hielten sich die Gemeinden nicht immer daran. Auch die St. Vincenzgemeinde gehörte dazu, denn der damalige Pfarrer Hintze von St. Vincenz schrieb am 30. Juli 1940 an das Landeskirchenamt: Aufgrund des Rundschreibens des Geistlichen Vertrauensrates vom 26. April 1940 hatte ich eine Glocken-Opferfeier veranstaltet, allerdings nicht am Muttertage, um den Predigtgedanken nicht zu halbieren, sondern erst später. Nach dem Gottesdienst (Jer. 22,29), versammelte sich die zahlreiche Gemeinde auf dem Kirchplatz und es fand das in dem Rundschreiben angeordnete, „letzte Geläut“ statt. Nach diesem letzten Geläut habe ich dann die „zur Ablieferung bestimmten Glocken“ nicht mehr läuten lassen; es wäre ja sonst kein „letztes“ Geläut gewesen, wie es angeregt war.18 Für die St. Vincenzgemeinde bestand die Anordnung, die beiden größten Glocken des Geläutes abzuliefern, die kleinste Glocke durfte eine Gemeinde in der Regel noch behalten. Natürlich nur die kleinste Glocke, da sie am wenigsten Metallwert darstellte.
So wurden die beiden größten Glocken schließlich demontiert und nach Hamburg auf den so genannten Glockenfriedhof – ein Sammellager für tausende von Glocken – transportiert. Auf dem Hamburger Glockenfriedhof versuchten Denkmalpfleger und Kunsthistoriker noch so gut es ging die Glocken der Kategorie B und C zu erfassen und zu dokumentieren. Dazu wurden die Glocken zumeist fotografiert, und näher beschrieben. Für jede Glocke entstand eine Karteikarte. So wurden von den beiden abgelieferten Glocken der St. Vincenzkirche ebenfalls Karteikarten angefertigt.19 Es war ein großes Glück, dass das Kriegsende nahte und auch die Affinierie in Hamburg von Bomben zerstört war, so dass keine weiteren Glocken eingeschmolzen werden konnten. Die verbliebenen Glocken wurden nach Kriegsende durch einen gebildeten Rückführungsausschuss an ihre Heimatgemeinden zurück gesandt, so auch die beiden großen Glocken von St. Vincenz. Sie trafen am 5. Juli 1947 in Schöningen ein und wurden im Turm wieder aufgehängt.20
Leider erfolgte die Aufhängung an gekröpften Stahljochen, die den Glocken sowohl musikalisch aber vor allem auch materialtechnisch geschadet haben und sie über Gebühr stark beansprucht haben.21 Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt wurde die Aufhängung jedoch wieder verändert, so dass die Glocken heute an geraden Holzjochen läuten. Im Jahre 1950 erfolgte die letzte größere technische Neuerung, nämlich die Elektrifizierung des Geläutes. Waren bis dahin allein vier kräftige Männer zum Läuten der großen Glocke notwendig, wie eine Quelle aus dem Jahre 1805 berichtet, so war fortan nur noch eine Person für das gesamte Geläut erforderlich.22
Neben der Besonderheit, dass sich in St. Vincenz ein vollständiges Geläut aus dem 18. Jahrhundert erhalten hat, wenn auch nicht aus einer Gießerhand, ist es vor allem die musikalische Disposition, die dieses Geläut nahezu einzigartig und unverwechselbar macht. Ein weiteres Geläut in dieser Disposition konnte vom Verfasser bisher in Deutschland nicht ausgemacht werden. Musikalisch umfasst das dreistimmige Geläut eine Oktave von h° zu h1, wobei zwischen diesen Oktavabstand die mittlere Glocke mit dem Schlagton f1 gesetzt wurde. Diese musikalische Disposition ist für ein dreistimmiges Geläut höchst ungewöhnlich. Der Grund für diese besondere Disposition ist nicht ersichtlich, zumal es auch keine Quellen darüber gibt. Man mag fast vermuten, dass die Entwicklung der Glockenmusik hier noch im 14. Jahrhundert stehen geblieben ist, lediglich mit der Vorgabe eine große, eine mittlere und eine kleine Glocke zu besitzen.
Ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts war es Glockengießern möglich Tonreihen zu gießen und musikalisch umzusetzen, beispielsweise die Tonfolge ut, re, mi. Damit konnte man nun mehrere Glocken musikalisch aufeinander abstimmen und eine geschlossene musikalische Intervallfolge, eine Tonreihe bilden. In der St. Vincenzkirche hat man allerdings in glockenmusikalischer Hinsicht keine dieser geschlossenen Tonreihen, sondern ein dreistimmiges Geläut, welches sich über eine ganze Oktave erstreckt und dazwischen eine mittlere Glocke einfügt. Die Intervallabstände der einzelnen Schlagtöne zueinander sind dabei sehr groß und umfassen jeweils eine so genannte übermäßige Quarte, den so genannten Tritonus. Dieser Tritonus – musikalisch auch als Teufelsintervall bezeichnet – ist zweimal vorhanden, nämlich zwischen der großen und mittleren und der mittleren und kleinen Glocken. Die Verwendung des Tritonus ist in Glockendispositionen selten, in zweifacher Verwendung innerhalb eines dreistimmigen Geläutes absolut ungewöhnlich und nahezu nicht weiter zu finden.
Als Glocken musikalisch noch nicht aufeinander abgestimmt werden konnten, wurden in der Regel nur Einzelglocken verwendet, um bestimmte liturgische Ereignisse anzukündigen. Dies kann ursprünglich die Intention dieser Disposition gewesen sein, obwohl historische Läuteordungen der St. Vincenzkirche aus dem 18. Jahrhundert durchaus das Läuten beispielsweise von zwei Glocken, der großen und mittleren zu bestimmten Anlässen vorsah.23 Die Gründe für die musikalische Abstimmung, wenn man denn davon ausgeht, dass sie in dieser Form beabsichtigt war, müssen im Dunkeln bleiben.
Die St. Vincenzkirche besitzt damit ein historisch wertvolles Denkmalgeläut, welches durch seine musikalische Abstimmung zudem ein Alleinstellungsmerkmal besitzt. Die Tatsache, dass im Jahre 2016 der 300. Geburtstag der großen Glocke gefeiert werden konnte zeigt, dass der Gemeinde diese Tatsache nicht einerlei ist und sie sich dieses besonderen Kulturschatzes bewusst ist.
Fast jede Generation – von der Zwangsablieferung der Glocken im Zweiten Weltkrieg abgesehen – hat dazu beigetragen das Geläut zu erhalten und zu pflegen. Und so ist zu wünschen, dass auch die zukünftigen Generationen das Geläut wertschätzen und erhalten, damit es seiner Aufgabe weiterhin nachkommen und verkünden kann: SOLI DEO GLORIA.
Sebastian Wamsiedler (Campanologe und geprüfter Glockensachverständiger)