Leben im Schöninger Meer
Nach vielen Regentagen scheint endlich wieder die Sonne. Heiß brütet sie über dem Land. An den Bäumen und Sträuchern wagt sich kaum ein Blatt zu rühren. Zu früher Tageszeit herrscht bereits eine so hohe Temperatur, dass die Menschen nur träge und mit Unlust ihren Geschäften nachgehen. Jonas will nicht zu Hause in der Stube sitzen. Er packt etwas zu essen und zu trinken in seinen Rucksack und macht sich auf den Weg, um im kühlen Elm einen Spaziergang zu machen. Als er endlich müde und matt den Elmrand erreicht, will sich Jonas eine Verschnaufpause gönnen. Er setzt sich auf eine Bank, an der ein kleines Schild mit der Aufschrift „Aufgestellt vom Verkehrsverein Schöningen“ befestigt ist. So sitzt er da, schaut in die Landschaft, schließt dann die Augen und freut sich über die Ruhe in der Natur.
Auf einmal hört er eine leise Stimme:
„Komm mit mir! Du sollst sehen, was früher auf der Erde weitem Reich geschah.“ Was er sieht, verwundert ihn sehr. Rings um ihn herum, soweit sein Auge reicht, bewegt sich ein grünlich schimmerndes, durchsichtiges Meer. Es scheint sehr flach. An den tiefsten Stellen wohl nur 3 bis 4 Meter tief. Darum gibt es viele Sandbänke, Inseln und Landzungen. Das warme klare Wasser verlockt zum Baden. Jonas schwimmt und taucht für sein Leben gern. Also öffnet er seinen großen Rucksack, entnimmt ihr Badehose, Tauchermaske und Schwimmflossen,- zuletzt auch noch zwei Sauerstoffflaschen, die er sich auf den Rücken schnallt und den Schlauch zum Atmen in den Mund steckt. Nun lässt er sich einfach hinabgleiten in das herrliche warme Wasser.
Zuerst muss er sich an diese neue Welt gewöhnen. Aber dann sieht er unter sich, in etwa einem Meter tiefe, viele kleine krumme Muscheln. Alle eng auf einer Fläche zusammen. Jonas erinnert sich: Sie werden Gervillia sociales oder gesellige Krummschalmuscheln genannt. Ein Stückchen weiter kriechen Schnecken mit Häusern so groß wie die Unterschale einer Tasse über den Meeresboden, aber die Schnecken kriechen nicht auf dem Bauch, sondern laufen langsam auf langen Armen, die am Kopf sitzen. Auch der Name für diese Gattung fällt ihm ein. Es sind Kopffüßer.
Plötzlich stützt sich ein Tier auf allen Armen ab, hebt sich etwas an und pustet unter sich in den Sand. Dabei hebt es sich ganz vom Boden ab und schwimmt rückwärts in kleinen Stößen ein paar Meter weiter. Jonas will es genau wissen. Mit dem Finger stupst er eines der Tiere direkt vor seiner Tauchermaske an. Jetzt sieht er, wie die Arme des Tieres Wasser in den Körper hineinpumpen, sich dann zu einer Röhre zusammenlegen und das Wasser wieder ausstoßen, wobei der ganze Körper mit dem leichten Gehäuse einen kleinen Ruck nach rückwärts macht. Nicht schlecht denkt Jonas, funktioniert wie bei den Düsenflugzeugen. Dann macht Jonas noch eine Entdeckung. Die Gehäuse dieser Kopffüßer sind nicht alle gleich. Zahlreiche Gehäuse haben Querrippen, etliche wiederum Knoten in ein oder zwei Reihen, andere haben Zacken und Dornen, wieder andere sind glatt. Diese Tiere heißen Ceratiten, Hornschnecken. Sie gehören auch zu der großen Gruppe der Ammoniten, von denen es hunderte von Arten gibt. Plötzlich steuert in einiger Entfernung mit ruhigen und kräftigen Stößen ein anderer Vertreter der Kopffüßer vorbei. Ein Nautilus, auch Schiffsboot oder Perlboot genannt, segelt vorüber. Das Tier hat ein größeres glattes Gehäuse. Nach ihm wurde, so erinnert sich Jonas, das Atom-Unterseeboot Nautilus in Jules Vernes Zukunftsroman “20000 Meilen unter dem Meer” benannt. Nach diesen Erlebnissen taucht Jonas wieder auf, um sich über Wasser zu orientieren, damit er sich nicht zu weit von seiner Sandbank entfernt. Als er seinen Kopf aus dem Wasser steckt, sieht er auf der nächsten Sandbank zwei merkwürdige Gesellen liegen. Es sind Meeres-Echsen.
Beide Tiere sind scheußlich anzusehen und haben eine Länge von etwa drei Metern. Davon misst der Körper einen Meter, der Schwanz hat dieselbe Länge. Auf Kopf und Hals zusammen entfällt ebenfalls ein Meter. Der Kopf ist nicht stärker als der Hals, aber mit nach außen gerichteten, spitzen Fangzähnen bewaffnet. Beide Tiere, es sind Nothosaurier (Bastard-Echsen), liegen in der Sonne und strecken alle vier Beine wohlig auf dem heißen Sand aus, den tiefgeschlitzten Rachen weit geöffnet. Beim Anblick des Menschenkopfes mit Tauchermaske ergreifen die beiden Ungetüme aber sogleich die Flucht. In wilder Panik stürzen sie sich ins Wasser, das ihnen als Tarnung und Schutz dient. Aber nicht vor unserem Jonas. Er macht sofort sein Tauchgerät wieder klar.
Die Gelegenheit, solche Urweltriesen zu entdecken, darf er sich nicht entgehen lassen. Jonas taucht unter und durch die Bewegung mit seinen Schwimmflossen hat die die Echsen schnell wieder erreicht. Inzwischen haben sich die Bestien schon wieder beruhigt. Eine schnappt sich gerade einen Fisch aus einem vorüberziehenden Schwarm heraus, während die andere mit einer ruckartigen Halsbewegung einem Nautilus ausweicht, der sonst in den ständig geöffneten Rachen der Echse hineingeschwommen wäre. Mit gleichmäßigen schlängelnden Schwanzbewegungen, wobei die kurzen Beine als Stabilisierungs-Paddel nach hinten an den Körper angelegt werden, entschwinden sie den Blicken des Tauchers. Aber schon ein kleines Stück weiter, am Ende der nächsten Landzunge, lockt etwas Neues.
Dort wiegt sich etwas wie Seegras im Wasser, eine rosarot bis lilafarbige Wiese. Also nichts wie hin. Jonas lässt sich absinken, bis er mit den Füßen auf dem Meeresboden steht. In gleicher Höhe mit ihm wiegen viele hundert kleine Köpfchen auf langen grazilen Stielen im Rhythmus der Wellen hin und her. Genau betrachtet sehen die Kelche aus wie zwei gewölbte Baby-Händchen. Sogar die Anzahl der Finger stimmt. Die Finger biegen sich nach außen und ziehen sich nach innen wieder zusammen. Der Kelch öffnet und schließt sich dabei wieder. Jonas schaut auf eine Kolonie von Seelilien, Encrinus liliiformis. Mit ihren Fangarmen, die auch noch mit Nesseln besetzt sind, fangen die Seelilien kleine Krebse und Meeresplankton ein. Lange schaut Jonas diesen herrlichen Seelilien zu. Schließlich taucht er wieder auf, klettert auf eine Sandbank und legt die Taucherausrüstung ab. Er selbst streckt sich auf dem heißen Sand aus und will sich trocknen lassen.
Nach einiger Zeit dreht er sich um, fällt dabei von der Sandbank herunter und schlägt unsanft auf.
Nun findet sich Jonas vor der Bank am Rande des Elms auf dem Erdboden wieder, reibt sich erstaunt die Augen und denkt. „Da muss ich wohl eingeschlafen sein und habe vom Schöninger Meer, einem längst vergangenen Muschelkalkmeer und seinen Bewohnern geträumt, deren versteinerte Überreste ich vor kurzem im Schöninger Heimatmuseum gesehen habe.“
Text: Günter Reichart; Fotos von den Ausstellungsstücken: Georg Much
Die Zeichnung des Ammoniten (Kopffüßers) stammt von E. Zenzinger