Jenseits der Schlagzeilen
Die ersten Jahre der Weimarer Republik in Schöningen aus privater Sicht
Mündliche Angaben gegenüber dem Verfasser von
Dr. Jürgen Jahn, wohnhaft gewesen in Schöningen, Marienstraße. 8:
Er kann sich erinnern, dass eine bei seinen Eltern beschäftigte Hausangestellte erzählt hat, sie sei in der Fabrikstraße aufgewachsen. In den unruhigen Zeiten, als der Schöninger Bahnhof besetzt war, kam es dort häufig zu Schusswechseln. Sie sei daher von ihren Eltern aufgefordert worden, sich zur eigenen Sicherheit nicht an den zur Straße gelegenen Fenstern der Wohnung aufzuhalten.
Gunhild Eisfeld und Doris Kleye-Eichendorff, wohnhaft gewesen in Schöningen, Ohrsleber Weg 1a:
Beide gaben an, dass die Frau des stellvertretenden Führers der Schöninger Einwohnerwehr, Martha Falke, während der Schießerei am 15. März 1920 auf dem Burgplatz von den Spartakisten als lebender Schutzschild genutzt worden sei. Ihr Mann, Forstmeister Falke, ist vermutlich 1937 oder 1938 in Braunschweig (?) verstorben. Seine Frau zog dann nach Hamburg, wo wohl noch Nachkommen leben. Näheres ist ihnen allerdings nicht bekannt.
Ilse Lindemann, wohnhaft gewesen in Schöningen, Am Wallgarten 32:
Ihr Vater Herbert Künne war als Mitglied der Schöninger Einwohnerwehr bei der Schießerei am 15. März 1920 im Rittergut anwesend. Einige Mitglieder der Einwohnerwehr, so auch ihr Vater, konnten sich der zeitweiligen Belagerung des Gebäudes entziehen. Sie wurden von einem Herrn Danzfuß wohl aus einem versteckten Ausgang geholt und fuhren anschließend sofort für einige Zeit in den Harz um möglichen Nachstellungen der Spartakisten zu entgehen.
Wilhelm Röpke, wohnhaft gewesen in Schöningen, Am Thie (OT Hoiersdorf):
Er erzählte, dass etliche politisch links orientierte Jugendliche in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts derart mit dem System in Russland sympathisierten, dass sie als Helfer beim Aufbau des Landes nach dort gereist seien. Er selbst habe davon allerdings im letzten Moment Abstand genommen.
Annemarie Kölling, wohnhaft gewesen in Schöningen, Westendorf 13:
Ihre Mutter (Jahrgang 1895) hat ihr erzählt, dass in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg linke politische Kräfte häufig die Straße Westendorf hinunterzogen und dabei riefen: „Weg von den Fenstern, es wird geschossen.“ Es wurde dann auch geschossen und zwar ohne ersichtlichen Anlass, d.h., ohne dass Freikorpstruppen, die Einwohnerwehr oder Reichswehr anwesend gewesen wären.
Anneliese Rünger geb. Grote, wohnhaft gewesen in Schöningen, Reinbekstr. 4:
Meine Eltern hatten die Bäckerei Grote auf dem Markt in Schöningen. Von den Schießereien am Rittergut erzählten sie mir, dass die Toten bei uns in der Waschküche zunächst aufgebahrt wurden.
Lucie Bauer, Berlin, früher Schöningen:
Erich Eppert befand sich als Schüler aus reiner Neugier an diesem Tage (Anmerkung:15. März 1920) auf dem Burgplatz und geriet dabei in die Schießerei, die ihn das Leben kostete. Seine Eltern ließen auf dem Grabstein die Inschrift „Erschossen von der Schöninger Bürgerwehr“ anbringen. Dieser Text musste später entfernt werden. Wer diese Maßnahme veranlasst hat, ist mir nicht bekannt. Ich stand mit meiner Mutter häufig vor seinem Grab. Die Grabstelle ist schon längst eingeebnet worden. Eltern und Kinder waren sehr befreundet und es war ein großer Schock für alle, dass der Jüngste von ihnen erschossen wurde.
Hinweise in Veröffentlichungen Zitat aus:
Günther Kahmann, Landwirtschaftliches Kasino Schöningen 1883–1983, Schöningen 1983, Seiten 17–19:
„Der 1. Weltkrieg war aus, 17 Mitglieder bzw. deren Söhne waren gefallen oder vermisst, in Deutschland herrschte Revolution, Freikorps sorgten für Ordnung, Putsch und Streiks waren an der Tagesordnung. So war es nur verständlich, dass man sich erst im Sommer 1919 zu einem bescheidenen Sommerfest in der Gaststätte „Nuthmann“ in Esbeck zusammenfand.
Nach und nach wurde der Vereinsbetrieb wieder voll aufgenommen.
Aber schon bei dem 37. Stiftungsfest und kurz danach bekam man die ganze Härte des Klassenkampfes zu spüren. An diesem polterten gegen Mitternacht einige Linksradikale in den Saal des „Deutschen Hauses“, erstiegen die Bühne und der Anführer hielt eine unflätige Rede gegen die „Dickköppe“ (Landwirte), „Schlotbarone“ (Fabrikbesitzer), „Pfeffersäcke“ (Kaufleute), Militaristen und Bourgeoisie. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, trat er an die Rampe der Bühne, diese mit der gekachelten Wand einer Herren-Toilette verwechselnd. Hiernach verließen die Störer randalierend den Saal in dem Hochgefühl „es denen aber mal gegeben zu haben“.
Doch, wie groß war das Entsetzen der Festteilnehmer, als diese zur Heimfahrt ihre vor dem „Deutschen Haus“ und vor den Schachthäusern geparkten Kutschenstellt werden könnten, um nicht unbeaufsichtigt nochmals einer derartigen Gefahr ausgesetzt zu werden.“
Zitat aus:
Andreas Linhardt „Die Technische Nothilfe in der Weimarer Republik“, Norderstedt 2006: Seiten 168–170:
Zur Rolle der TN (Technische Nothilfe) während des Kapp-Lützwitz-Putsches (Mit weiteren Nachweisen):
Neben großen Teilen des in der Gastronomie beschäftigten Personals trat nun auch die Belegschaft der Braunschweigischen Landeseisenbahn in den Ausstand. (Anmerkung: Hier ist wohl die Braunschweig-Schöninger-Eisenbahn AG gemeint.) Ein weiteres TN-Kommando von 23 Studenten unter der Führung des Professors für Eisenbahnwesen Curt Risch erhielt daraufhin den Befehl, einen Milchzug vom Bahnhof Braunscheig-Gliesmarode nach Schöningen und zurück zu fahren. Man koppelte einen kurzen Güterzug zusammen und machte sich auf den 45 Kilometer langen Weg, um auf der Fahrt an mehreren Haltepunkten leere Milchkannen gegen volle auszutauschen. Das Bergbaustädtchen südöstlich der Landeshauptstadt galt als Hochburg der Linksradikalen und besonders aktiver Unruheherd.
Tags zuvor hatte es dort bei einem spontanen Versuch, die Einwohnerwehr zu entwaffnen, einen blutigen Zwischenfall gegeben, der acht Todesopfer (Anmerkung: richtig neun Todesopfer) forderte. Auf eine dementsprechend angespannte Stimmung trafen die Nothelfer, wie die Braunschweigische Landeszeitung in einem mit reichlich Polemik durchsetzten Artikel zu berichten wusste: „Auch die Nothelfer sind nur Menschen und müssen essen und trinken. Auf dem Endbahnhof wurde daher ein längerer Aufenthalt gemacht. Dieser Bahnhof gehört zu einem Ort, dessen Einwohner besonders „klassenbewußt“ sind und dadurch ihrem Nest zu einem großen Ansehen verholfen haben. Zum Mittagessen ließ sich ein Gang in den Ort nicht vermeiden. Die Noteisenbahner fanden eine freundliche Aufnahme seitens der Bevölkerung, die auf ihrem Kirchhof noch Platz zu haben scheint, da sehr höflich gefragt wurde, ob sie hier auch beerdigt werden wollten!“*)
*) Braunschweigische Landeszeitung vom 22.03.1920
Joachim Bittner